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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Autoren: Howard Jacobson
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Schulkindern davongelaufen. Die Kleine trödelte, schaute sich um. Treslove fürchtete, sie könnte ihn anmachen wollen, ihm vielleicht gegen Taschengeld ihre Dienste anbieten. Wie er da zitternd auf der Bank hockte, sah er bestimmt wie leichte Beute aus.
    Ohne ihn anzuschauen, bückte sie sich, um ihre Schuhe auszuziehen. Im selben Moment erkannte er sie. Sie war das Mädchen, das er wiederholt in seinen Träumen gesehen hatte – damals, ehe er Hephzibah kennenlernte –, jenes Schulmädchen im Faltenrock, mit weißer Bluse, blauem Pullover und kunstvoll geknotetem Schlips, das – ob scheu oder beherzt, hatte er nicht sagen können – mitten im Laufen stehen blieb, um sich die störenden Schuhe auszuziehen. Ein Schulmädchen in Eile, nur wusste er nie, ob ihm die Eile galt oder nicht.
    »Warum ziehst du die Schuhe aus?«, fragte er.
    Sie musterte ihn, als sei selbst für jeden Schwachkopf offensichtlich, warum sie sich die Schuhe auszog: um sich ihn von der Sohle zu kratzen.
    »Freak!«, sagte sie, zog ihm eine Fratze und rannte über den Rasen davon.
    Es ist ein Freak.
    Also nichts Persönliches. Es ist ein Freak, es ist ein Jude. Nur jemand, der anders war als sie selbst.
    Lohnt nicht, dafür zu sterben.
    Oder galt das Gegenteil: Lohnt nicht, dafür zu leben?
    3
    Am frühen Abend kehrte er in die Wohnung zurück. Er hatte noch einen Drink gebraucht.
    Nur gut, dass keine fragile Schickse mit wässerigem Ophelia-Flair in die Bar gekommen war. Gut möglich, dass er sie in den Park geschleppt hätte, um sich mit ihr zu ertränken.
    In der Wohnung war es seltsam still. Keine Hephzibah. Er ging sie suchen. Keine Hephzibah in der Küche, keine Hephzibah, die sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher ausgebreitet hatte und sich wunderte, wo er blieb, keine Hephzibah im Schlafzimmer, die ihn im orientalischen Morgenmantel mit einer Rose zwischen den Zähnen erwartete, keine Hephzibah im Bad. Ihr Parfüm aber konnte er riechen. Eine Schranktür stand offen, Schuhe lagen auf dem Boden verstreut. Sie war ausgegangen.
    Und dann, als träfe ihn ein Stein an der Stirn, fiel es ihm wieder ein. Heute war die Museumsnacht. Der Auftakt, die große Eröffnung, wie sie sich den Abend beharrlich zu nennen geweigert hatte. Herrgott noch mal! Um halb sechs sollten sie da sein, um Viertel nach sechs öffneten sich die Tore für die Gäste. »Früh«, hatte Hephzibahs Anweisung gelautet. Früh und kurz. Rein, raus, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich. Selbst die unauffälligen Einladungen waren möglichst spät verschickt worden. Dabei liebten die Juden Einladungen, wie Treslove längst festgestellt hatte. Sie waren totemistisch, unweigerlich mit Goldbuchstaben in Frakturschrift beschrieben, auf dicken, großen Karten geprägt, in der Wortwahl überschwänglich, und sie wurden Monate im Voraus versandt. Komm zur Party! Denk schon mal über ein Geschenk nach! Über deine Garderobe! Fang an, ein paar Pfunde abzunehmen! Hephzibah achtete darauf, dass ihre kleinen, hauchdünnen Einladungen im Schneckentempo in die Welt hinausgeschickt wurden.

    Er hatte ihr nicht versprochen, nicht zu spät zu kommen. Das brauchte er nicht. Er kam nie zu spät. Er verließ die Wohnung nur selten. Und Verabredungen vergaß er nicht.
    Warum also war er zu spät dran? Und warum hatte er diese Verabredung vergessen?
    Er wusste, was Hephzibah sagen würde. Sie würde sagen, er hatte sie vergessen, weil er sie vergessen wollte. Den Grund dafür würde er schon selbst herausfinden müssen. Vielleicht liebte er Hephzibah nicht mehr. Oder er war irrsinnig eifersüchtig auf seinen Freund. Oder er hatte begonnen, sich zuinnerst gegen das Museum zu wenden.
    Sie hatte ihm keine Nachricht hinterlassen. Das allein verriet Treslove, wie wütend und verletzt sie war. Er hatte sich wortlos von ihr entfernt, sie tat es ebenso.
    Er fragte sich, ob zwischen ihnen alles aus sein würde. Wenn, dann war Libor schuld. Es gibt Ereignisse, die machen es einem unmöglich, hinter sie zurückzukehren. Dorthin, wo man einmal gewesen war. Nach Libor, der sie zusammengebracht hatte, nichts. Gut möglich, dass dies seiner Absicht entsprach. Was ich zusammenfügte, will ich auch wieder trennen. Treslove verstand Libors Denkweise. Sein älterer Freund hatte herausgefunden, dass er ein Kriecher war, ein Hurenbock, ein Prahlhans. Er hatte Finklers Nest beschmutzt und würde nun qua Hephzibah auch Libors Nest beschmutzen. Was wollte er von ihnen, dieser Kuckucks-Goi? An ihrer Tragödie nuckeln, weil
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