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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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zu sein, vielleicht konnte er den Tod nicht vergessen, der schon nach ihm
gegriffen hatte.
    Immer mehr und unmerklich versank
ich in diese seltsame Tätigkeit, von deren Existenz ich kaum gehört hatte. Sie
zeigte mir die Kehrseite des Lebens. Oder seinen Kern. Alle Nöte der Welt
strömten in diesem stinkenden Laden zusammen, alle Trübsal und Unbill, alle
Begierden, aller Hochmut und Wahnsinn. Wir schrieben Gesuche um die Auszahlung
rückständigen Soldes für alte Krieger, um Sühne für wirkliches oder erfundenes
Unrecht, wir forderten Prozesse in Eigentumssachen, klagten gegen Beleidigung,
gegen Betrug, trieben entwendetes, unterschlagenes, aus längst vergessenen
Gründen nicht zurückgegebenes Geld ein, und bisweilen hatte ich den Eindruck,
daß die ganze Welt aus den Fugen geraten war und nun Gestank verströmte wie die
öffentlichen Bedürfnisanstalten neben unserer Schreibstube.
    Doch Mula Ibrahim war ruhig und
geschäftig, er redete über das Alter, hörte sich Begehren an, weckte Hoffnung
bei Unschuldigen und Schuldigen, befriedigte das menschliche Bedürfnis nach
Gerechtigkeit, wobei er sich über nichts wunderte, nichts verurteilte, alles
als normal hinnahm, weil es menschlich war, so daß er über diesem Elend zu
stehen schien, obwohl er davon lebte.
    »Haben wir nicht eine schöne
Aufgabe?« fragte er mich heiter, mit sich, den Kunden und seinem jungen
Gehilfen zufrieden, glücklich, weil er mich meiner Teilnahmslosigkeit und
gefährlichen Einsamkeit entrissen hatte.
    Das hatte er tatsächlich getan, und
ich konnte mich nicht genug über das Leben wundern, das ich nicht kannte. Und
als die Soldaten wieder in den Krieg gezogen waren, weil die Russen Bender,
Braila, Ismail, Kilia und andere Städte bis hin zur Donau erobert hatten, kamen
scharenweise Frauen in unseren Laden, die nicht lesen und schreiben konnten und
denen wir Briefe an ihre Männer und Söhne aufsetzten, Briefe, die niemals
ankommen würden, weil sie in den Kriegswirren untergingen oder ihre Empfänger
inzwischen nicht mehr lebten. Da begann ich zu überlegen, ob auch meine Eltern
solche Briefe abgeschickt hatten, in denen sie mich ermahnten, mir keine
Erkältung zuzuziehen und recht bald zurückzukommen. Ob der Barbier Salih von
Alifakovac an seine beiden Söhne geschrieben hatte, sie waren seine einzigen
Kinder, und ob er immer noch Briefe schrieb und an die dritte Kompanie
adressierte, von der nur der Name übriggeblieben war, so daß dort niemand mehr
wußte, daß einst zwei Brüder vom Alifakovac bei Chotin gekämpft hatten, während
der Vater seinen Söhnen zürnte, weil sie unaufmerksam waren und nicht
antworteten, ich aber konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Was sollte ihm die
Wahrheit.
    Mula Ibrahim war mir ein großes
Rätsel. Ich beobachtete ihn verwirrt und wußte nicht, wo ich ihm zwischen
Edelmut und kaltem Geschäftssinn einen Platz anweisen sollte. Höflich empfing
er Frauen und Greise, hörte ihnen gewandt zu, ungerührt und unbekümmert, aber
mit freundlicher Sicherheit, und er flößte ihnen ein Vertrauen ein, das schwer
zu erklären war. Ich hatte zu schreiben und wartete, daß sie mir sagten, was
sie mitzuteilen wünschten, und wir gerieten ins Stolpern, ich und derjenige,
der sprach, er verschwendete allgemeine, unnütze, tote und unbrauchbare Worte,
oder er erhob ein Jammern und Klagen, daß ich mich verschluckte und erstickt
vor Erregung mit der Hand über das Papier glitt, weshalb man mich überall für
ungeschickt hielt und mir oft Vorhaltungen machte.
    Mula Ibrahim hingegen kannte ihre
Seelen und ihre Verhältnisse genau, er las jeden ihrer unausgesprochenen Gedanken,
als verstünde er es, ihr Herz zu öffnen. Er wartete nicht erst, bis sie etwas
sagten, er ersparte ihnen die Pein des stotternden Bekenntnisses und schrieb
von sich aus, wobei er laut sprach: »Mein lieber Sohn, mein Kind, ich habe Dir
vor einem Monat geschrieben ... (so war es doch?) ... aber ich höre nichts von
dir. Ich weiß, daß Du es nicht leicht hast in diesem unglückseligen Krieg und
keine Zeit, Deiner Mutter zu schreiben, aber wenn ich wenigstens ein
Lebenszeichen von Dir hätte. Sei nicht böse, daß ich so oft schreibe, eine
Mutter ist eben eine Mutter, sie macht sich Kummer und Sorgen, wenn ihr Kind
hundert Tagereisen von ihr entfernt ist. Am Tag habe ich ja meine Arbeit, aber
nachts denke ich nur an Dich und Deine Augen und kann nicht schlafen. Ich
lausche, ob der Türklopfer ans Hoftor schlägt, weil ich Verrückte hoffe, daß
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