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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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Die Dnjestrsümpfe
    Ich werde nicht erzählen, was sich bei Chotin, in
dem fernen russischen Land, ereignet hat. Nicht weil ich es vergessen hätte,
sondern weil ich nicht will. Es hat keinen Sinn, über das schreckliche Gemetzel
zu sprechen, über die Angst der Menschen, die Bestialitäten auf beiden Seiten,
man sollte sie weder in Erinnerung behalten noch bedauern noch feiern. Am
besten wäre, daß alles begraben würde, daß alles Häßliche aus dem Gedächtnis
der Menschen verschwände und daß die Kinder keine Lieder über die Rache sängen.
    Ich will nur sagen, daß ich
zurückgekommen bin. Wäre ich nicht zurückgekommen, hätte ich nichts
aufgezeichnet, und niemand wüßte, daß all dies geschehen ist. Was nicht
aufgezeichnet ist, hat sich auch nicht ereignet, es ist vergangen und
vergessen. Ich bin über den vom Regenwasser angeschwollenen Dnjestr geschwommen
und habe mich so gerettet. Die anderen sind erschlagen worden. Mit mir ist auch
Mula Ibrahim gekommen, der Schreiber, mit dem ich Freundschaft geschlossen habe
auf der dreimonatigen Reise nach Hause, in die ferne Heimat, er ist gekommen,
weil ich schwimmend sein leckes Boot aus dem gefährlichen Fluß gezogen und ihn,
den Kranken, die Hälfte des Weges getragen, geschleppt, ermutigt habe, wenn er
auf die Knie sank oder wenn er auf den Rücken fiel und in den fremden düsteren
Himmel starrte, mit dem einzigen Wunsch zu sterben.
    Nach der Heimkehr habe ich niemandem
von Chotin erzählt. Vielleicht weil ich erschöpft und verwirrt war, weil mir
all das so seltsam vorkam, als wäre es in einem anderen Leben geschehen und als
wäre auch ich ein anderer gewesen, nicht der, welcher mit Tränen in den Augen
seine Vaterstadt anschaute und sie kaum wiedererkannte. Ich beklagte mich
nicht, ich war nicht verwundet, fühlte mich nicht betrogen, ich war nur leer
und fassunglos. Als ich meinen Lehrerposten aufgab und die Kinder, die ich
unterrichtete, war ich zu Ruhm und Licht aufgebrochen, aber ich war in den
Morast geraten, in die unabsehbaren Dnjestrsümpfe bei Chotin, unter Läuse und
Krankheiten, Wunden und Tod, in unbeschreibliche menschliche Not.
    Von dieser seltsamen Sache, die
Krieg heißt, sind mir zahllose Einzelheiten und nur zwei Ereignisse im
Gedächtnis geblieben, und ich spreche von ihnen nicht, weil sie schwerer wiegen
als die übrigen, sondern weil ich sie einfach nicht vergessen kann.
    Das erste ist eine Schlacht unter
vielen. Es ging um eine Befestigung, einen mit Lehm beworfenen Flechtzaun.
Viele Männer fielen in den Sümpfen um die Befestigung, unsere und gegnerische,
das schwarze morastige Wasser wurde sattbraun vom Blut, es stank nach feuchtem
Wurzelwerk und nach verwesenden Leichen, die niemand barg. Und als wir den Wall
eingenommen, ihn mit Kanonen und unserer Kriegskunst zerstört hatten, stand ich
müde davor: Was für eine Sinnlosigkeit. Was hatten wir gewonnen, was hatten sie
verloren? Wir und sie waren von einem einzigen Sieger umzingelt, der
vollkommenen Ruhe der uralten Erde, die gleichgültig war gegenüber menschlichem
Leid. Ich stützte den Kopf in die Hände an diesem Abend, auf einem nassen
Baumstumpf hockend, vor dem kläglichen Feuer, das unsere Augen brannte, betäubt
vom Geschrei der Wasservögel, erschreckt vom dichten Nebel der Dnjestrsümpfe,
der uns in Vergessen zu hüllen suchte. Ich weiß nicht, wie es mir in dieser
Nacht gelang, das Grauen in mir und um mich zu überleben und die tiefe Trauer
der Niederlage nach dem Sieg. Im Dunkel, im Nebel, in den Schreien und Pfiffen,
in einer Verzweiflung, deren Ursache ich nicht kannte, in dieser langen
schlaflosen Nacht, in schrecklicher Angst, die nicht vom Feind ausging, sondern
von etwas in mir, wurde ich so geboren, wie ich bin, ohne Vertrauen zu mir
selbst und zu allem Menschlichen.
    Das zweite Ereignis ist häßlich, und
ich versuche vergebens, es loszuwerden. Es sucht mich oft heim, auch ohne
meinen Willen. Jeder Anlaß bringt es zu mir zurück, und sei er noch so
gegensätzlich, ein fröhliches Lachen, das taubensanfte Lallen eines Kindes,
ein zartes Liebeslied. Und meine Erinnerung beginnt immer am Ende, nicht so,
wie ich jetzt erzähle, deshalb ist vielleicht einiges ungenau, aber anders
würde man es nicht verstehen. In der dritten Kom panie hatte sich ein Dutzend
Männer aus Sarajevo sofort isoliert, aus Angst vor der fremden Gegend, dem
fremden Feind, den fremden Soldaten. Jeder von uns erkannte im anderen etwas
Eigenes, Vertrautes, wir teilten einander den Gedanken
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