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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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Knien, dann verschwand
er im Schilf. Wohin er wollte, was er beabsichtigte, ob er den Verstand
verloren hatte, ist schwer zu sagen. Niemand hat ihn wiedergesehen.
    Mula Ibrahims junger Adjutant, der
Student Ramiz, übernachtete bei uns, damit er nicht bei Dunkelheit den Rückweg
antreten mußte.
    Er unterhielt sich mit uns, hörte
mehr zu, als daß er sprach, aber was er sprach, war seltsam, und er schien
schon alles zu wissen, was wir wußten.
    Ich schilderte ihm den Vorfall, und
er sagte mit müdem Lächeln: »Sie töten andere, sie töten sich selbst. Das Leben
des Volkes ist Hunger, Blut, Elend, kümmerliches Dahinvegetieren im eigenen
Land und sinnloses Sterben in der Fremde. Die Würdenträger aber werden
heimkehren, alle, um vom Triumph zu erzählen und den Überlebenden das Blut
auszusaugen.«
    Nie hatte ich von jemandem solche
Worte gehört. Wir verfluchten Himmel und Erde, Gott und die Menschen, aber so
redeten wir nicht.
    »Warum bist du hergekommen?« fragte
ich ihn.
    »Um auch das zu sehen«, antwortete
er und schaute nachdenklich in die dunkle Nacht, die um uns lauerte.
    Ich habe andere Ereignisse
vergessen, wichtigere, schlimmere, grausamere, und wenn ich sie nicht
vergessen habe, so hocken sie nicht wie gespenstische Bilder in mir. Ich denke
fast nicht mehr an die Kämpfe, die Wunden, die Roheit, die Heldentum heißt, an
den Widerwillen gegen das Gemetzel, das Blut, die seelenlose Begeisterung, die
tierische Angst. Ich denke nicht an den gewaltigen, von Regenfällen angeschwollenen
Dnjestr, als wir, von den übrigen Einheiten abgeschnitten, am anderen Ufer
zurückblieben und Tausende Soldaten fielen oder in Gefangenschaft gerieten und
Hunderte in dem schrecklichen Fluß ertranken, während ich ihn durchschwamm und im lecken Boot den
Schreiber Mula Ibrahim zog, der sich vor Angst besudelte und mich bat, es
niemandem zu erzählen. Ich habe auch zahllose andere Dinge vergessen, die ich
mir wegen der Nähe des Todes, wegen der durchlebten Angst hätte einprägen
können, aber ich trage in der Erinnerung nur diese beiden Ereignisse, die auch
hätten in Vergessenheit geraten können. Vielleicht weil ich sie weder verstehen
noch erklären konnte, und ein Geheimnis bleibt länger im Gedächtnis als die
offensichtliche Wahrheit.

Trauer und Lachen
    All dies habe ich zum erstenmal einem Mädchen
erzählt, und zum erstenmal so im Zusammenhang, vom Anfang bis zum Ende. Auf
diese Weise habe ich auch eine für mich verständliche Geschichte geschaffen,
denn bisher war sie immer im Gewirr ihrer einzelnen Teile abgebrochen, im Nebel
der Angst, war in ein Geschehnis außerhalb der Zeit eingegangen, vielleicht
auch ohne bestimmten Sinn, wie ein schwerer Traum, den man weder begreifen noch
loswerden kann. Aber warum ich gerade mit ihr sprach und warum hierüber, das
war mir selbst nicht klar. Mir schien, als verstünde sie zuzuhören, begreifen
würde sie freilich nicht, aber das Zuhören war mir wichtiger als Verständnis.
    Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß
man das, was man sich selbst nicht erklären kann, einem anderen erzählen
sollte. Sich selbst kann man durch einen Ausschnitt des sich aufdrängenden
Bildes irreführen, durch ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist, weil es
sich der Pein des Erkennens entzieht und in den Nebel flüchtet, in eine
Trunkenheit, die keinen Sinn sucht. Ein anderer braucht das genaue Wort,
deshalb forscht man danach, man weiß, daß man es in sich hat und hascht nach
ihm oder seinem Schatten, man erkennt es im Gesicht des anderen, in seinem
Blick, wenn er zu verstehen beginnt. Der Zuhörer ist die Hebamme bei der
schweren Geburt eines Wortes. Oder etwas noch Wichtigeres. Wenn er den Wunsch
hat, zu verstehen.
    Und sie wünschte es, mehr, als ich
gehofft hatte. Während ich erzählte, wich aus ihrem Gesicht der heitere
Ausdruck, der mich vielleicht zu diesem unerwarteten Gespräch verleitet hatte,
und an seine Stelle trat plötzlich etwas Reifes und Trauriges. Sie sagte nur:
»Mein Gott, wie unglücklich die Menschen sind.«
    Ich war darauf nicht gekommen,
obwohl ich glaubte, eben daran gedacht zu haben. Der Gedanke war nicht
besonders tief oder neu, so reden die Menschen, seit sie zu denken begonnen
haben. Und mich überraschte weniger der Gedanke, wenn ich ihn auch nicht
erwartet hatte, als die Überzeugung,
mit der er ausgesprochen wurde. Es war, als hätte sie ihr verborgenstes
Geheimfach geöffnet und sich mir preisgegeben. Und ich war glücklich, weil ich
zum erstenmal in
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