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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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mich nicht ab. Ihre Qual lähmte mich. Denn ich hatte begriffen. Hätte
ich ihr Gewalt angetan wie die anderen, hätte sie es stumm ertragen und uns
Hunde ihr Leben lang gehaßt. Aber die menschliche Rücksicht und Anteilnahme
nach der Notzucht, die sie hingenommen hatte wie ein Erdbeben, wie eine Seuche,
wie ein von Gott gesandtes, unabwendbares Verhängnis, riefen plötzlich ihr
Gefühl für Würde wach und zeigten ihr das Ausmaß ihrer Demütigung. Aus dem
Opfer des unfaßbaren Schicksals war ein Opfer menschlicher Grausamkeit
geworden.
    Ich hatte diese Frau am schlimmsten
beleidigt, schlimmer als alle anderen. Sie stand auf und wandte sich zur Tür,
dann besann sie sich, hob den Zwieback auf und ging mit gesenktem Kopf hinaus.
    Am Morgen saßen wir vor dem Stall,
bedrückt, voller Zorn aufeinander, mit uns selbst und der ganzen Welt im Hader,
erstickt vom Sumpfnebel und noch mehr von dem Nebel in uns. Die Frau brachte
nacheinander die Kinder heraus und wusch sie vor der Hütte, dann ging sie zum
Stall, ohne uns einen Blick zu gönnen, das Kopftuch tief ins Gesicht gezogen,
um die blutigen Spuren zu bedecken. Sie molk die Kuh und trug die Milch ins
Haus.
    Seufzend sprach Paro den Namen
Gottes aus.
    Die anderen saßen starr und
schwiegen.
    Ich stand
auf, nur um etwas zu tun, dieses angespannte Schweigen und der stumme Haß der
Frau quälten mich, ich trat zu dem morschen Hackklotz und begann Späne zu
machen. Die Frau kam aus dem Haus, entriß mir das Beil, kehrte zurück und
verriegelte von innen die Tür.
    Plötzlich wurde uns der Raum eng,
wir waren von Drohung umgeben. Sicher stand sie hinter der Tür, das Beil in der
Hand. Wie hatten sie sich ihrer am Vorabend bemächtigt? Durch Täuschung,
Gewalt, Überrumpelung? Und alles hatte sie offenbar schweigend erduldet, um die
Kinder nicht zu ängstigen. Ich grübelte, ich bewunderte und bedauerte sie,
aber ich sprach kein Wort über das Geschehene. Auch die anderen nicht. Aber es würgte uns in der
Kehle. Das verschlossene Haus mit den Kindern darin war ein stummer Vorwurf.
    Der ältere Sohn des Barbiers Salih
vom Alifakovac stand auf und ging auf das Riedgras zu, wegen eines Bedürfnisses
offenbar. Da er lange nicht zurückkam, machte sich der jüngere Bruder auf die
Suche und fand ihn tot hinter dem Schober. Er hatte sich mit dem Rasiermesser
getötet. Er mußte lange gebraucht haben, um die Adern von einem Ohr zum anderen
zu zertrennen, um den Schnitt durch die Kehle und die elastische Luftröhre zu
führen, das Blut war geströmt wie aus einem Brunnen und hatte den feuchten
Boden unter ihm getränkt. Der Schmerz war sicher entsetzlich gewesen, doch er
hatte nicht einmal gestöhnt. Aus fünfzehn Schritt Entfernung hatten wir keinen
Laut gehört.
    Und während wir warteten, daß jemand
vom Stab kam, um ein Protokoll über den Todesfall aufzunehmen, dessen Ursache
keine Kugel und kein feindlicher Säbelhieb war, starrten wir die klaffende rote
Wunde an, voller Angst, was der jüngere Bruder tun würde, der ohne Tränen und
Klagen dasaß und nicht zuließ, daß die Leiche bedeckt wurde. Er stöhnte nur
dumpf.
    Als Mula Ibrahim und sein junger
Adjutant das Protokoll aufgesetzt hatten, völlig unnützerweise, denn man kannte
weder den Grund für den Selbstmord, da niemand die Gewalttat vom Vorabend
erwähnte, noch konnte man Vermutungen darüber anstellen, zeigte die Frau
wortlos, wo sich die Schaufel befand, und schloß sich wieder mit den Kindern in
der Hütte ein.
    Der jüngere Bruder hob allein ein
Grab im nassen Boden aus, legte es mit einer Garbe Riedgras aus und bettete den
Bruder in die Grube. Jede Hilfe wies er hartnäckig zurück. Über den Toten
breitete er eine zweite Garbe Riedgras, und das Gesicht bedeckte er mit seinem
Taschentuch. Als er das Grab zugeschaufelt und jeder von uns eine Handvoll
Schlamm auf den feuchten Hügel geworfen hatte, bat er uns mit einer
Handbewegung, ihn allein zu lassen.
    Er blieb am Grab stehen, allein,
lange. Wer weiß, was er dachte, was er mit sich und dem toten Bruder sprach,
den er mehr geliebt hatte als sich selbst; wir hörten es nicht, und nie wird es
jemand erfahren. Dann riß er sich los. Er verneigte sich weder, noch küßte er
das Grab, er betete auch nicht, sondern hob nur den Blick vom Hügel und ging
auf den Sumpf zu. Wir riefen ihn, liefen ihm nach, baten ihn zurückzukehren.
Er wandte sich nicht einmal um, vielleicht hörte er nichts. Wir sahen, wie er
bis zu den Knöcheln ins Wasser watete, dann bis zu den
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