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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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einem anderen Menschen auf etwas getroffen war, und das nur um
meinetwillen.
    Sie heißt Tijana und ist die Tochter
von Mićo Bjelotrepić, einem Christen, der vor zwei Jahren von der
Hand unbekannter Mörder fiel, als er mit Rauchwaren zum Markt von Višegrad
unterwegs war. Die Obrigkeit hatte weder lange noch gründlich nach den Tätern
gesucht, woraus man schließen konnte, daß sie entweder nicht begierig waren,
die Wahrheit zu hören, oder daß sie sie kannten und alles dem Vergessen
anheimgaben.
    Alles ungewöhnlich, alles so, wie es
nicht sein sollte. Aber ich hatte die Umstände ebensowenig gewählt wie sie
mich: Wir waren einander begegnet wie Vogel und Sturmwind.
    Als ich aus dem Krieg heimkehrte,
erwarteten mich schlechte Nachrichten. Meiner Familie war es schlimmer
ergangen, als wenn sie in Chotin dabeigewesen wäre: Vater, Mutter, Schwester
und Tante, alle waren an der Pest gestorben. Ich kannte nicht einmal ihr
Grab; täglich waren Hunderte gestorben, und die Lebenden hatten sie eilig
irgendwo verscharrt. Das baufällige Haus unserer Familie war niedergebrannt,
angesteckt von Zigeunern, als sie im letzten Winter Schutz vor der Kälte
suchten, sie hatten es aus Versehen in Brand gesteckt, aus Unaufmerksamkeit,
denn es war nicht ihr Eigentum. Bisweilen ging ich hin und sah die geschwärzten
Mauern und die blinden Fenster des toten Gebäudes an, in dem ich mir die
einstigen Bewohner einfach nicht vorstellen konnte: Es schien seit jeher
verlassen zu sein. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß ich selbst einst
dort gelebt hatte. In meinen eigenen Erinnerungen gab es mich nicht. Der Garten
war verwildert, die Obstbäume von Dornengestrüpp überwuchert, ein kläglicher Anblick.
Man verlangte, daß ich es verkaufte, ich wollte nicht. Als hoffte ich, daß die
Erinnerungen zurückkehren würden, vielleicht konnte ich sie brauchen. Aber das
fiel mir später ein, da war es mir gleichgültig. Gleichgültig auf eine
besondere Weise, ohne Trauer und Bedauern.
    Eine stille Teilnahmslosigkeit hatte
mich ergriffen, ich litt weder, noch empfand ich Freude. Ich hatte so viele
Tode gesehen, daß mir die eigene Rettung wie ein unerwartetes Geschenk vorkam,
ich wußte nicht wie, ich wußte nicht von wem, aber es glich einem Wunder.
Vielleicht war mein Bewußtsein noch von dieser ungewöhnlichen Wahrheit verwirrt,
mein Körper aber hatte ihre Bedeutung erfaßt. Ich lebte im Grunde ein zweites,
fremdes, geschenktes Leben, alles andere war vorläufig unwichtig. Dies war
Überfluß, ein Glück, das Tausende anderer nicht hatten und das Tausende anderer
nicht verstehen konnten, weil sie nicht meinen Weg gegangen waren. Wenige
Menschen in der Stadt konnten sagen, vielleicht ich als einziger: Ich bin
glücklich, ich bin am Leben. Ich sagte es nicht, aber ich empfand es mit jeder
Faser. Die anderen konnten das nicht, denn sie hatten nicht am Rand des
Abgrunds gestanden.
    Nichts anderes berührte mich, nicht
einmal der mögliche Schmerz von morgen. Niemand lud mich ein, niemand bot mir
etwas an, und ich verlangte auch nichts. Und ich verargte keinem etwas. Ich
mußte den Menschen seltsam vorkommen, als hätte ich den Verstand verloren. Ich
hatte keine Beschäftigung, kein Zuhause, ich hatte nichts, aber das war mir
gleichgültig.
    Stundenlang saß ich vor der
Beg-Moschee auf den Steinen und betrachtete die Straßenpassanten oder den
Himmel oder nichts. Ich hörte das lächerliche Geschwätz der Spatzen wie einen
gutmütigen Streit oder ein heiteres Gespräch über Gott und die Welt. Sie kamen
mir vor wie kleine gewöhnliche Menschen, ein wenig zänkisch, gutmütig,
fröhlich, oberflächlich, friedlich, mit wenigem zufrieden, ausdauernd im
Mißgeschick, zu kleinen Betrügereien bereit, ohne Hoffart. Sie waren sanft und
ungefährlich wie Kinder. Auch die Kinder liebte ich, ihre hellen Stimmen, das
eilige Getrappel ihrer bloßen Füße, ihr lustiges Lachen, die harmlose Grobheit
ihrer Worte. Nur wenn sie sich prügelten, hielt ich mir beunruhigt Augen und
Ohren zu.
    Ich liebte alles, was nicht Krieg
war, ich liebte den Frieden.
    Aber dann versetzte mich auch der
Frieden in Unruhe.
    Zur Moschee pflegte auch Salih Golub
zu kommen, der arme Scherbettverkäufer vom Vratnik. Er nahm das schwere Gefäß
von der Schulter und ließ sich keuchend auf den Stufen nieder. Wenn er sich
ausgeruht hatte, begann er zu singen, halblaut, für sich, an die Mauer gelehnt,
mit geschlossenen Augen. Er kannte nur ein paar Worte eines einzigen Liedes,
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