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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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Oder
weil der Barbier Salih vom Alifakovac noch immer auf seine Söhne wartete?
    Ich wußte
nicht, warum ich lachte.

Dennoch Glück
    Ich ging ziellos durch die Gassen und fand
mich vor den rußschwarzen Mauern meines Hauses wieder, im Nichts.
    Begann denn bei uns jede Generation
mit allem von vorn?
    Diese tote Vergangenheit und diese
nichtige Gegenwart, diese schwarzen Ruinen alles Gewesenen, auf denen ich
nichts zu errichten gedachte, waren dennoch eine Verbindung mit etwas. Womit?
Ich erkannte den alten Mondschein wieder, er ähnelte dem aus der Kindheit,
jetzt täuschte er, indem er die Brandstätte mit Silber übergoß. Hatte ich ihn
aus meinem Zimmer da oben gesehen, das es jetzt nicht mehr gab, oder vor der
Befestigung bei Chotin, als ich mir vorstellte, hier zu sein? Schon lange
vermischten sich bei mir Zeiten und Räume, so daß ich nicht wußte, wo ich mich
befand und wann das geschehen war, woran ich dachte. Wie in der Wüste, wie am
Himmel gab es keine Grenzen, und die Erinnerungen passierten ungestört, ließen
sich dort nieder, wo es ihnen am angenehmsten war. Sie waren wie Wolken, es war
ihnen gleichgültig, wo sie waren, wann sie entstanden und vergingen. Das störte
mich nicht, es war sogar bequem: Ich hatte nicht das Bedürfnis, irgend etwas zu
entscheiden.
    Als ich ihre Stimme hörte, war ich
erstaunt. Gab es denn hier einen lebenden Menschen? Später fragte ich mich: Wie
hat sie mich erkannt? Hat sie gewußt, daß nur mein Schatten diese Grabstätte
aufsuchen kann? Oder hat sie mich bei meinen früheren Besuchen gesehen?
    Ich trat an den Zaun, nur um sie zu
begrüßen, wir waren Nachbarn, und ich ging fort, als die Turmuhr Mitternacht
schlug.
    Tijana, sagte ich leise, ungläubig.
Tijana. Die ganze Steintreppe hinab bis zum Geschäftsviertel. Tijana. Nichts
sonst, nur diesen ungewöhnlichen Namen.
    Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Was bedeutete mir dieses Mädchen? Was war es, das da in mir nachschwang wie ein
Glockenton? Ich tröstete mich damit, daß ich auch nicht klüger gewesen war, als
ich zu meinem ehemaligen Haus hinaufstieg. Die Kerzen vor dem Bildnis des
Sultans waren erloschen, die bunten Papiersterne in den Fenstern nicht zu
erkennen, ich hatte die Bauern aus Župča vergessen, die auf irgendeinem
Marktplatz unter ihren Wagen schliefen und auf den Morgen und auf ihre Leichen
warteten, ich wußte nicht, warum ich hinaufgegangen war.
    Geistesabwesend blieb ich stehen, in
mir dröhnte es dumpf wie in einer leeren Höhle, als mich der Kinderschritt von
einst zu der Brandstätte geführt hatte, wo es keine Erinnerungen gab. Wie
hätten sie auch sein sollen? Heftige und doch unbestimmte Sehnsucht, die über
der teuren, unliebenswürdigen Stadt hing. Das Kinderzimmer voller Phantasiebilder
ohne Sinn und Halt. Der Vater, fern wie der Mond, dem sein Leben lang alles
Gewonnene leicht zerronnen war; die Mutter, die weder an ihre Kinder noch an
Gott gedacht hatte, sondern an ihn, den Vater, und die sicher aus Trauer um ihn
und nicht an der Pest gestorben war; die Schwester, mit der ich mich nicht
verstanden hatte, denn sie war nicht von dieser Welt; die Tante mit ihrer
langweiligen weinerlichen Liebe und den wutschäumenden Geschichten über ihren
Mann, der ihr in seiner Undankbarkeit davongelaufen war, worüber ich mich nicht
wunderte. Oberhalb des wuchernden Unkrauts war das Zimmer meines Vaters
gewesen, das ich nur zweimal jährlich, an den beiden Hauptfeiertagen betreten
durfte, um mich zu verneigen und ihm die schöne weiße Hand des untätigen
Menschen zu küssen. Jetzt kam mir das wie ein Traum vor.
    Ich verargte ihnen nichts, auch nicht,
daß es ihnen nicht einmal gelungen war, mir Erinnerungen zu hinterlassen. Sie
hatten gelebt, so gut sie es verstanden, und sicher nicht gewollt, daß ich nach
ihrem Tod leer an dieser Grabstätte stand.
    Ich hatte nie darüber gesprochen
(Mula Ibrahim hatte recht, am schwersten ist es, über das zu sprechen, was
einen am meisten berührt), aber schon am nächsten Abend erzählte ich es dem
Mädchen aus meiner einstigen Nachbarschaft, von der ich vor unserer Begegnung
überhaupt nichts gewußt hatte. Am ersten Abend redete ich über den Krieg,
scheinbar nicht über mich, aber was dabei herauskam, betraf ausnahmslos mich.
Mich hatte sie auch gemeint, als sie sagte: Mein Gott, wie unglücklich sind die
Menschen. Mich und alle Menschen. Sich selbst auch?
    Und sie hatte nur das gesagt. Sie
hatte zugehört und geschwiegen.
    Als ich die Steintreppe
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