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Sehnsuchtsland

Sehnsuchtsland

Titel: Sehnsuchtsland
Autoren: Inga Lindström
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M ama, guck mal, was Großvater und ich gefangen haben!«
    Lasses fröhliches Rufen schallte über den See. Der Junge stand aufgeregt im Bug des kleinen Motorseglers und schwenkte einen Fisch, der so groß war, dass er ihn kaum halten konnte.
    Ingrid kam aus dem Bootshaus und beschattete mit dem Handrücken ihre Augen gegen die gleißende Sonne. Die Sommerhitze flimmerte über dem Wasser wie ein funkelnder Film, ab und zu durchbrochen vom Aufblitzen vorbeihuschender Libellen, die im Zickzack aus dem Schilf geschossen kamen.
    Das Dorf am gegenüberliegenden Ufer wirkte von dieser Seite des Sees wie eine gemalte Spielzeuglandschaft — die Häuser sahen aus wie bunte Holzwürfel, die Boote wie weiße Tupfen auf der glitzernden Bläue des Wassers.
    Björn saß auf der Ruderbank, die Hand am Steuer. Er lachte seine Tochter zufrieden an und sah dabei seinem Enkel auf eine so frappierend knabenhafte Art ähnlich, dass Ingrid unwillkürlich lächeln musste.
    Jungs, dachte sie.
    Mit gutmütigem Stolz musterte sie ihren kleinen Sohn, der es endlich geschafft hatte, den Fisch besser in den Griff zu kriegen, und ihn voller Begeisterung in die Luft hielt.
    Er strahlte seine Mutter an. »Den habe ich ganz allein rausgezogen!« In seinem Eifer, Ingrid seinen Fang aus der Nähe zu präsentieren, beugte er sich vor, in der einen Hand den Fisch, die andere weit nach vorn ausgestreckt, als könne er so den Anlegevorgang beschleunigen.
    Das Boot hielt geradewegs auf den Steg zu, und Ingrid ging besorgt in die Hocke.
    »Pass auf«, sagte sie scharf.
    Doch der Kleine kletterte unbekümmert auf den Rand des Bootes, den Anlegesteg schon fast in Reichweite seiner nassen, von Fischschuppen glänzenden Finger.
    »Lasse, nicht aussteigen!«, rief Björn im Befehlston. Ihm war nicht entgangen, dass Lasse drauf und dran war, ins Wasser zu fallen. »Lasse... Warte! Ich helfe dir! Lasse!«
    Der Kleine hockte rittlings auf dem Dollbord, den Fisch nach wie vor mit der freien Hand umklammernd, ein unbekümmertes Grinsen im Gesicht. Das Boot schwankte auf den Steg zu, und Björn erfasste mit einem Blick, dass der Stützpfeiler im nächsten Augenblick Lasses Bein mit voller Wucht gegen das Boot drücken würde. Entschlossen ließ er das Ruder fahren und war mit einem Satz bei dem Kleinen. Er packte seinen Enkel bei der Schulter und riss ihn heftig zurück, nur einen Sekundenbruchteil, bevor das Boot mit einem hässlichen Knirschen am Pfeiler entlangschrammte. Von seinem eigenen Schwung vorwärts getragen, geriet Björn ins Straucheln. Einen Fluch auf den Lippen, rutschte er auf dem Fisch aus, den Lasse auf den Boden des Bootes hatte fallen lassen. Er ruderte mit den Armen, um sich wieder zu fangen, und beinahe hätte er es geschafft, doch dann kam wie aus dem Nichts der Großbaum von der Seite auf ihn zugeschossen und erwischte ihn am Rücken. Björn erlebte seinen eigenen Sturz wie in Zeitlupe, mit seitlich weit ausgestreckten Armen, das Boot unter ihm, der Himmel über ihm eine Fläche aus strahlendem Blau.
    Er hörte den entsetzten Aufschrei seiner Tochter, zeitgleich mit der schrillen, angsterfüllten Stimme seines Enkels, der mittschiffs auf den Planken hockte, um sich herum die frisch gefangenen Fische.
    »Großvater!«
    Im selben Moment krachte Björn rücklings mit einem berstenden Geräusch gegen die Kante des Bootsrandes. Er war betäubt, fühlte keinen Schmerz, nur die Gewissheit, dass irgendetwas in seinem Körper entzweigegangen war. Und die klare Kälte des Wassers, das einen Augenblick später über ihm zusammenschlug.

    *

    Lena war erschöpft, sie spürte kaum noch einen Knochen im Leib. Sie liebte die Transatlantikflüge , schon weil sie lange dauerten und weil sie auf diese Weise die größtmögliche Entfernung zwischen sich und Schweden legen konnte. Doch natürlich hatte das Ganze auch den Nachteil, dass es entsprechend anstrengend war und ihr regelmäßig das Gefühl bescherte, wochenlang schlafen zu wollen. Bis zum nächsten Flug, der sie ans andere Ende der Welt brachte.
    Ihre Kollegin warf ihr einen kurzen Blick zu, und Lena riss sich zusammen. Sie nahm das Mikrofon und spulte mit geübter Stimme ihr Sprüchlein ab: »Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten landen wir in Arlanda, Stockholm...«
    Der bald darauf folgende Moment des Aufsetzens löste wie immer ein schwaches Gefühl der Beklemmung in ihr aus. Es war stets dasselbe: ein Zurückkehren auf den harten Boden der Tatsachen, der nur dann weit genug weg war, wenn sie
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