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Mord und Brand

Mord und Brand

Titel: Mord und Brand
Autoren: Gerhard Loibelsberger
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I.
    Es war ein düsterer Morgen. Im Laufe des Tages verzog sich der Nebel nur teilweise, alles blieb grau in grau. Dazu blies ein eisiger Wind, der Budka bei seinem Rundgang ziemlich zu schaffen machte. Kein Wunder, schließlich stagnierte die Quecksilbersäule des Thermometers bei der Nullgradgrenze. Ein Tag, der für ihn auch deshalb beschwerlich war, weil er von der überlangen Silvesternacht einen Kater hatte. Seine Gliedmaßen fühlten sich noch steifer an, als sie es ohnehin schon aufgrund der Kälte waren. Da half nur rasches Gehen, fast Laufen, zwischen den einzelnen Kunden, die er zu beliefern hatte. Konnte man zu diesen Unglücklichen, die er besuchte, eigentlich Kunden sagen? Er wusste es nicht. Es blieben für ihn eher Stationen, wo er sich kurz aufwärmen konnte, bevor er wieder hinaus in die winterliche Kälte trat. Wer aber waren diejenigen wirklich, die ihm seinen Stoff abnahmen? In Wahrheit, so dachte er, war sein Erscheinen eine Art Zwangsbeglückung. Die meisten von ihnen mussten auf jeden Heller schauen, den sie ausgaben. Zusätzlich mussten sie Brennmaterial sparen und konnten nur wenige Stunden am Tag ihre jämmerlichen Öfen beheizen. Ja, das Leben war verdammt teuer geworden in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Und während die Reichen immer reicher wurden und immer prunkvollere Gebäude rund um die Innenstadt beziehungsweise immer weitere Mietskasernen am Rande der Stadt bauen ließen, kämpfte ein großer Teil der Wiener Bevölkerung ums nackte Überleben. An diese unerfreuliche Tatsache wurde er erinnert, als er in der Kalvarienberggasse in eine Demonstration der Schneidermeister geriet. Eine Gruppe von gut 300 Menschen lärmte und brüllte vor dem Gebäude der Herrenkonfektionsfabrik Lischauer. Einige Sicherheitswachleute standen dabei und schauten unbeteiligt zu. Man sah ihnen an, dass sie sich lieber in der warmen Stube eines Kommissariats aufgehalten hätten, als hier draußen im eisigen Wind. Was für ein Jahr würde 1911 werden, wenn es schon am Neujahrstag mit einem Streik und einer Demonstration begann?
     
    Trotzdem setzte er ein bemüht freundliches Lächeln auf, stets darauf bedacht, dass es kein Grinsen war, wenn er an die Tür einer seiner Stationen klopfte oder im Falle eines etwas besseren Hauses an der Tür klingelte. Er wünschte ein gutes Neues Jahr, fragte höflich nach dem allgemeinen Befinden, obwohl ihm das völlig egal war und verkaufte dann eines der Machwerke, die er mit sich führte. Es handelte sich um Kolportageromane, die in wöchentlichen Fortsetzungen erschienen. Das simple Handlungsmuster dieser Schundromane war immer so gestrickt, dass am Ende eines Heftes– unmittelbar vor den Worten ›Fortsetzung folgt‹– die Spannung enorm war. So wurden die Leser und Leserinnen zum Kauf des nächsten Heftes animiert. Manche waren süchtig danach. Woche für Woche warteten sie voll Sehnsucht und Spannung auf das Erscheinen des Kolporteurs, damit er ihnen neuen Lesestoff lieferte, der sie zum Träumen oder auch zum Vergessen ihrer eigenen kümmerlichen Existenz anregte. Es waren Titel wie ›Die Königstochter im Irrenhaus‹, ›Um der Liebe willen verstoßen und geächtet‹, ›Fetzer, der größte deutsche Räuberhauptmann des 19. Jahrhunderts‹, ›Der Henker von Berlin‹ oder ›Kätchen Schneider‹. Letzterer war ein Dienstmädchenroman, der von eben jenen gekauft und mit Begeisterung gelesen wurde. Ein Umstand, den er nicht verstand. Er selbst würde nie einen Roman über seinesgleichen lesen. Über Gauner, Räuber, Diebe, Strizzis und Totschläger. Die Kreise, in denen er verkehrte, interessierten ihn nicht. Elend und Verbrechen begleiteten ihn von Kindesbeinen an. Sie waren ein Fluch, den er nicht abschütteln konnte. Heute weniger denn je. Denn wenn man, so wie Budka, mehrmals im Zuchthaus gesessen hatte, bot einem das Leben nur mehr sehr eingeschränkte Möglichkeiten. »Es ist eh völlig Blunzen 1 , ob’s d’ ehrlich bleibst oder nicht, ein armer Hund bleibt ein armer Hund…«, murmelte er, als er eine ebenerdig gelegene, nach Moder riechende Zimmer-Küche-Wohnung betrat. Hier hauste ein zaundürrer Schneidermeister mit Frau und drei Kindern. Die eineinhalb Räume dienten als Wohnung und Werkstatt zugleich. Infolge des Streiks arbeitete der Schneider heute ausnahmsweise nicht. Er saß stumpfsinnig vor sich hinstarrend am Küchentisch, zwei seiner Kinder plärrten in dem unwirtlich kalten Zimmer. Die Aussicht, mittels des Schundromans der
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