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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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Du
es bist ... (Hör jetzt auf zu weinen, wir müssen fertig werden) ... oder daß
jemand Nachricht von Dir bringt. Um uns mach Dir keine Gedanken, uns geht es
gut ... (Ich weiß, daß das nicht stimmt, aber er kann Dir nicht helfen, und so
wird ihm leichter ums Herz sein) ... auch meine Atemnot ist fast weg. Mejra
fragt jeden Tag nach Dir ... (So, sie fragt nicht mehr? Will sie heiraten?) ...
Die Mädchen fragen jeden Tag nach Dir ...«
    Ich hielt im Schreiben inne und
hörte diese schönen Worte, die wie alte Lieder klangen. Jahrhundertealte Trauer
spürte man in diesen Worten, in diesen Briefen, die mehr für die Absender als
für die Soldaten geschrieben, die in den Wind, ins Nichts geschickt wurden und
in der ersten kalten Nacht auf einem Etappenfeuer verbrennen würden.
    Und während ich betrübt, mit Tränen
in den Augen diesen Klagen und Trostworten lauschte und meine wiedererwachten
Erinnerungen zu unterdrücken suchte, war Mula Ibrahim vollkommen ruhig. Er
bemerkte sogar, daß meine Hand in einem unvollendeten Satz verhielt, und
mahnte: Mach weiter! Und wenn er einen Brief voller Liebe und Güte beendet
hatte, nahm er sachlich das verlangte Geld in Empfang und legte es in die
Schublade, wobei er der Kundschaft liebenswürdig empfahl, ihn wieder zu
beehren.
    Welcher der zwei völlig
entgegengesetzten Menschen in ihm war der wahre?
    Abends verbuchte er jeden
vereinnahmten Heller und dankte Gott für seine Gnade. In solchen Augenblicken
haßte ich ihn. Es ist häßlich, am Mißgeschick anderer zu verdienen, dachte ich.
Und ich sagte es ihm.
    »Ich bin an diesem Mißgeschick nicht
schuld«, antwortete er ruhig. »Und ich helfe den Menschen. Erledige ich pünktlich,
was sie von mir verlangen? Ja. Und ich nehme weniger als andere. So ist es nun
mal, viel Mißgeschick und guter Verdienst.«
    Aber meinen Lohn erhöhte er nicht.
    »Du verdienst gut«, sagte er, und er
meinte es ernst »In deinem Alter hatte ich nur halb soviel. Und ich war zufriedener
als heute. Weißt du, was das Beste im Leben ist, mein Freund? Der Wunsch.«
    Es stimmte, meine Wünsche nahm er
mir nicht, sie waren alle da, unbefriedigte und solche, die noch nicht erwacht
waren. Ich machte mir um nichts Sorgen. Wenn ich Zeit fand, ging ich an die
Dariva oder zur Ziegenbrücke, setzte mich ans Ufer und hörte dem
dahinfließenden Wasser zu.
    Mula Ibrahim gab mir Ratschläge:
    »Warum angelst du nicht? Das Angeln
sieht aus wie eine große Torheit, was es auch ist, aber es kann zur größten
Leidenschaft werden. Und es schützt den Menschen vor anderen Torheiten. Die
Welt kann zusammenstürzen, du aber sitzt da und starrst ins Wasser. Die größte
Weisheit im Leben ist es, die wahre Torheit zu finden. Wäre die Obrigkeit
weise, würde sie allen befehlen: die Rute in die Hand und an den Fluß zum
Angeln! Es gäbe keine Unruhen und Rebellionen. Ich sage dir: Fang Fische,
Ahmet Šabo!«
    »Ich gedenke nicht zu rebellieren,
und ich brauche keine Torheit. Ich bin ruhig, wie du siehst.«
    »Zu ruhig. Deshalb habe ich ja
Angst. Ich habe Angst, was sein wird, wenn du erwachst. Fang Fische, Ahmet
Šabo!«
    Ich lachte, denn er schien zu
spotten. Aber dann fiel mir ein, daß er mißtrauisch gegen alles war, was nicht
Ordnung und Gesetz war, deshalb gefiel ihm meine Eigenbrötelei nicht. Einsamkeit
gebiert Gedanken, Gedanken Unzufriedenheit, Unzufriedenheit Aufruhr.
    Mir war jeder Gedanke an Aufruhr
fern; ich hing nur träge meinen Träumen nach.
    Eines Tages kündigte er mir den Besuch
der Angehörigen des Imams aus dem Dorf Župča an, der Imam und zwei weitere
Dorfbewohner seien am Abend zuvor in der Festung erwürgt worden, weil die Leute
aus Župča keine Kriegshilfe zahlen wollten. Die Angehörigen seien sogleich
hergeeilt, um sie zu retten, aber die Justiz sei schneller gewesen als die
Besorgnis der Verwandten. Heute hätten sie erfahren, was geschehen sei, und sie
wollten um Auslieferung der Leichen ersuchen. Das Gesuch solle ich schreiben.
    »Warum sind sie erwürgt worden?«
    »Warum? Du fragst mich, warum?«
    Zum erstenmal, seit wir
zusammenarbeiteten, sah ich ihn beunruhigt an. Seine Stimme war leise, aber
zittrig, heiser und tief, als erstickte er vor Erregung.
    »Was soll ich dir darauf antworten?
Es sind so viele Menschen umgebracht worden, und du suchst einen Grund, warum
der Imam und zwei Bauern aus Župča erwürgt wurden! Geh angeln, Ahmet
Šabo!«
    Er ging auf die Gasse hinaus, und
ich schaute ihm besorgt nach. In seiner Aufregung konnte er
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