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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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etwas anstellen,
was schwer wiedergutzumachen war.
    Wie viele verschiedene Menschen
waren in diesem Mann?
    Die Leute aus Župča kamen in
großer Zahl, die Frau des Imams und die des einen Bauern (die andere stand kurz
vor der Niederkunft, wie sie mir sagten, als müßten sie sich rechtfertigen),
die Brüder, die Söhne, die Familienmitglieder. Sie standen dichtgedrängt in dem
kleinen Laden, hielten sich verlegen aneinander fest, aber zu meinem Glück und
großen Erstaunen klagten und weinten sie nicht. Sie hätten gehört, was
geschehen sei, sagte der Bruder des Imams, und ersuchten darum, daß ihnen die
Leichen ausgeliefert würden, damit man sie in Župča begraben könnte, dort
lebten all ihre Angehörigen. Sie bäten um schnelle Erledigung, morgen, denn es
gäbe keinen Grund zum Warten, damit wolle er sagen: Sie seien ja schon tot, man
brauche sie in der Festung nicht mehr, und Tote solle man nicht lange
unbestattet lassen, sie fingen an zu stinken. Sie hielten drei Laden bereit
und seien mit Wagen gekommen, um sie am nächsten Morgen, wenn es irgend möglich
sei, fortzubringen, sie seien in Eile, zu Hause gäbe es viel Arbeit, es sei
Sommer, und ständig gäbe es etwas zu tun, und schon so hätten sie eine Menge
Zeit verloren.
    Ich stand wie erstarrt, mehr über
ihre ruhigen Darlegungen erschüttert als über das Unglück.
    »Warum schreibst du nicht, Effendi?«
    Ich konnte kaum die Hand rühren, um
das Gesuch an den Kadi fertigzustellen.
    Umsonst, das Leben war schwerer, als
ich gedacht hatte.
    Mula Ibrahim kam mit irgendwelchen
Päckchen herein.
    »Ist alles erledigt?«
    Er nannte ihnen den Preis,
kassierte, und die Leute aus Župča drängten hinaus.
    Er sah ihnen nach.
    »Keiner hat geweint oder ein Wort
des Bedauerns gesagt. Als berührte sie das alles nicht.«
    »Wenn es einen am meisten berührt,
redet man am wenigsten. Außerdem sind sie an Leiden gewöhnt. Alles hat sich
gegen sie verschworen. Himmel und Erde und die Menschen. Hilfst du mir, den
Laden zu schmücken?«
    »Warum?«
    »Morgen ist der Geburtstag des
Sultans. Halte das mal.«
    Ich schaute ihn ungläubig an: Sollte
das ein Scherz sein?
    Es war kein Scherz. Er machte sich
ernsthaft an die unernste Arbeit, ganz bei der Sache, geschäftig, fast
verzückt.
    Mit der Schere zerschnitt er
Buntpapier zu Halbmonden, Sternen, Schlangen, wir beklebten die Fensterscheiben
und -rahmen, errichteten ein Firmament neben den städtischen
Bedürfnisanstalten. Eine Menge bunter Sterne und spitz-horniger Halbmonde
besiedelte die Schreibstube, und in die Auslage stellten wir ein Bildnis Abdul
Hamids mit der Inschrift Gott erhalte dich noch lange und das Bild
einer Janitscharenabteilung, die fröhlich in den Krieg zog, und darunter
schrieben wir: Allah hat uns eine unschlagbare Armee geschenkt.
    Ich wehrte mich gegen den
aufdringlichen Gedanken, daß auch ich ein Angehöriger dieser unschlagbaren
Armee gewesen war, als sie über den Dnjestr flüchtete. Aber was sollte mir das
jetzt? Dies war nicht die Wahrheit, dies war eine Festlichkeit.
    Wir stellten Kerzen ins Fenster, die
wir anzündeten, da es schon dunkel wurde, und gingen hinaus, um unser Werk zu
bewundern.
    Mula
Ibrahim war entzückt.
    »Ist es
nicht schön?«
    »Ja, es ist
schön.«
    »Auf die Idee mit dem
Janitscharenbild wird keiner kommen.«
    »Nein.«
    »Und die Sterne? Wie wirken der
Halbmond und die Sterne?«
    »Prächtig.«
     Es war kläglich, es war lächerlich,
es war häßlich. Hätte ich zu weinen begonnen oder mit den Zähnen geknirscht, es
wäre kein Wunder gewesen, aber ich lachte über die Begeisterung meines
Freundes und über meinen eigenen Ekel. Die schweigsamen Bauern aus Župča
hatten mich völlig durcheinandergebracht. Sie saßen jetzt irgendwo in der
großen fremden Stadt und warteten auf ihre Leichen, und ich starrte diesen
bunten Firlefanz an und lachte, lachte, lachte. Ich lachte Tränen. Wenn ich
aufhörte zu lachen, würden nur die Tränen übrigbleiben.
    »Hör auf!« flüsterte Mula Ibrahim
und sah sich ängstlich um. »Worüber lachst du? Was ist so komisch?«
    Ich weiß nicht, dachte ich, was
komisch ist und worüber ich lache.
    Hatten wir deshalb den Laden
geschmückt und Kerzen unter den bunten Sternen und dem heroischen Sultan angezündet,
weil der Imam und zwei Bauern aus Župča getötet worden waren und weil ihre
Angehörigen jetzt im Finstern schwiegen und den Morgen erwarteten, um die Toten
fortzubringen? Oder weil bei Chotin alle meine Kameraden gefallen waren?
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