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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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fröhlich, eben wie eine Mutter. Später erinnerte ich
mich ihres mitfühlenden Blickes und dachte, daß wir ihr leid getan hatten
angesichts all der Dinge, die uns im Leben erwarteten.
    Nach dem Essen bei Mula Ibrahim
gingen wir in mein häßliches Zimmer und sahen uns verlegen an.
    »Es war schön«, sagte ich.
    »Sehr schön.«
    »Sie haben uns herzlich empfangen.«
    »Weil sie gute Menschen sind.«
    »Bist du zufrieden?«
    »Ja.«
    »Ich habe nicht den Eindruck. Etwas
quält dich.«
    »Ich bin ein bißchen verwirrt.«
    »Warum?«
    »Ich weiß nicht. Das geht vorüber.«
    »Vielleicht bist du traurig, weil
unsere Angehörigen nicht dabei waren. Meine sind tot, und deine sind uns böse.
Was können wir da machen?«
    »Setz dich zu mir. Gib mir die
Hand.«
    Schweigend schmiegte sie sich an
mich, als suchte sie Schutz. Sie versuchte zu verwinden, daß ihre Angehörigen
sich von ihr losgesagt hatten. Sie versuchte, sich an mich zu gewöhnen. Jetzt
hatten wir beide niemanden mehr, würden wir einander genügen? Wovon hatte sie
als Mädchen geträumt, wie hatte sie sich ihren Zukünftigen vorgestellt, hatte
sie in ihren schlimmsten Träumen dieses schreckliche Zimmer gesehen, das auch
mir unerträglich vorkam?
    Sollte ich sie fragen oder sich an
das gewöhnen lassen, was ihr Leben sein würde?
    Da klopfte es an der Tür.
    Wer konnte das sein? Wir erwarteten
niemanden.
    Ich öffnete: Ein Unbekannter stand
vor mir, seltsam strahlend, mit feuchten Augen und gefühlvoll glücklichem
Lächeln, als wäre er vom eigenen Begräbnis davongelaufen. Er sah nicht
besonders gescheit aus, so gerührt wie er war, und ich sicherlich auch nicht.
Erstaunt sah ich in sein seliges Gesicht, das mir so unbekannt war wie er
selbst.
    Er sagte, er käme zu mir, wolle mich
nur sehen. Er sei Ferhad, ein naher Verwandter meiner Mutter, und ich solle
mich nicht wundern, wenn ich ihn nicht kenne. Vor zwanzig Jahren, während des
Aufstandes der Brüder Morić und Sari Murats, sei er nach Valjevo
geflüchtet und nun zurückgekehrt.
    Diesen Verwandten hatte ich völlig
aus dem Gedächtnis verloren, ich hatte zu Hause von ihm gehört, aber vergessen,
warum er geflohen und auf wessen Seite er gewesen war, auf der der Brüder Morić
oder auf der der städtischen Kaufleute. Aber ich freute mich, daß einer der
Meinen, als sei er von den Toten auferstanden, gerade in dem Augenblick zu
Besuch gekommen war, als wir glaubten, keine Angehörigen zu haben.
    Ich lud ihn zum Sitzen ein, er begrüßte
die Schwägerin, sagte, wie schön sie sei, ein Geschenk habe er nicht
gekauft, denn er habe zu spät von der Hochzeit erfahren und sich nur beeilt,
uns zu sehen, das Geschenk würde er morgen bringen. Er erzählte und erzählte,
dann wurde er still, strahlend vor Freude, beunruhigt durch ein unbekanntes,
mir völlig fernes Glück, und ich dachte, wie seltsam das alles war. Nur zwanzig
Jahre waren vergangen, und alles war vergessen, die Brüder Morić, Sari
Murat und ihre Gesetzwidrigkeiten und die Menschen, die sie umgebracht hatten.
Auch das Gedächtnis des Volkes hatte versagt, und so wurde ein trauriges Lied
vom Galgentod der beiden Brüder gesungen, als wären sie Helden und nicht rohe
Gewalttäter gewesen. Vielleicht hatten gerade dieses Lied, in dem das Volk Helden
aus solchen machte, die es nicht waren, und dieses Vergessen, als sei all das
vor Jahrhunderten geschehen, meinen Verwandten nach Sarajevo geführt. Und die
Sehnsucht nach der Vaterstadt. Von dieser Sehnsucht sprach er mit feuchten
Augen. Er habe nicht schlafen und nicht essen können, er habe geglaubt, vor
Trauer sterben zu müssen, stundenlang habe er dagesessen und sich seine Stadt
vorgestellt, Fußbreit um Fußbreit, Haus um Haus, voller Angst, das Bild könnte
wie ein Trug verschwinden. Hunderte, Tausende von Malen sei er im Geiste durch
die bekannten Gassen gegangen und habe daran gedacht, daß dem Menschen nichts
wichtiger und teurer sei als die Heimat. Heute aber sei er wirklich durch die
Stadt gewandert, habe die bekannten Orte aufgesucht, sie seien schöner, als er
sie sich dort im fernen Valjevo vorgestellt habe, und morgen würde er das
wieder tun, er glaube, diesen Hunger der Liebe niemals stillen zu können.
    Und ich wunderte mich über soviel
Torheit. Hätte ich gewußt wohin, und wäre es mir nicht gleichgültig gewesen,
ich wäre auf und davon gegangen. Auch jetzt. Nur die geliebte Frau hätte ich
mitgenommen, der ich unverhofft begegnet war.
    Der Hunger seiner Liebe wurde
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