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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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Als Bezeugung der Ursprünge – als Bezeugung vom Ende wäre da also diese Photographie, aufgenommen im Sommer 1918, in deren Betrachtung Marcel Antonetti sich sein Leben lang vergeblich verbissen hatte, um das Rätsel der Abwesenheit in ihr zu entschlüsseln. Man sieht seine fünf Geschwister mit seiner Mutter darauf abgebildet. Um sie herum ist alles milchig weiß, weder Wände noch Boden sind auszumachen, und sie scheinen wie Gespenster in dem merkwürdigen Nebel zu schweben, der sie bald schon verschlucken und auslöschen wird. Sie sitzt in Trauer gekleidet da, starr und alterslos, ein dunkles Tuch umhüllt ihren Kopf, die Hände ruhen flach auf den Knien, und sie blickt so intensiv auf einen Punkt jenseits des Objektivs, dass man meinen möchte, sie sei gleichgültig gegenüber allem Anwesenden um sie herum: dem Photographen samt seinen Instrumenten, dem Licht des Sommers und ihren eigenen Kindern – ihr Sohn Jean-Baptiste, mit Bommelmütze, gezwängt in einen zu eng sitzenden Matrosenanzug, wie er sich ängstlich an sie schmiegt, ihre drei älteren Töchter, in einer Reihe hinter ihr, alle steif und in Sonntagstracht, die Arme dicht an den Körper gepresst, und, allein im Vordergrund, die jüngste, Jeanne-Marie, barfüßig und in Lumpen, die ihr leichenblasses und schmollendes kleines Gesicht hinter den verwirbelten Strähnen ihres schwarzen Haars verbirgt. Und jedes Mal, wenn er den Blick seiner Mutter kreuzt, erfasst Marcel die unumstößliche Gewissheit, dass er ihm gilt und dass sie damals schon bis tief hinein in die Vorhölle nach den Augen des Sohnes Ausschau hielt, den es noch zu gebären galt und den sie nicht kannte. Denn auf dieser an einem glühend heißen Tag im Sommer 1918 im Schulhof aufgenommenen Photographie, wo ein fliegender Photograph weißes Leintuch zwischen zwei Stangen gespannt hatte, betrachtet Marcel vor allem das Schauspiel seiner eigenen Abwesenheit. All jene, die ihn bald schon mit ihrer Sorge, vielleicht mit ihrer Liebe umhegen würden, sind da, in Wahrheit aber denkt niemand an ihn und er fehlt niemandem. Sie haben ihre Festtagskleidung, die sie so gut wie nie anlegen, aus einem mit Naphthalin ausgelegten Wandschrank genommen und Jeanne-Marie dabei trösten müssen, die erst vier ist und weder ein neues Kleid besitzt noch Schuhe, bevor sie dann gemeinsam Richtung Schule gegangen sind, glücklich wahrscheinlich darüber, dass sich endlich etwas ereignet, was sie einen Augenblick lang aus der Monotonie und Einsamkeit ihrer Kriegsjahre reißt. Der Schulhof ist voller Menschen. Den ganzen Tag über hat der Photograph in der glühenden Hitze des Sommers 1918 Frauen und Kinder porträtiert, Behinderte, Greise und Priester, die alle der Reihe nach vor sein Objektiv traten, auf dass auch sie so eine Atempause fänden, und Marcels Mutter und seine Geschwister hatten geduldig gewartet, bis sie an der Reihe waren, und unterdessen immer wieder einmal Jeanne-Maries Tränen getrocknet, die sich ihres zerlöcherten Kleides und ihrer nackten Füße schämte. Im Moment der Aufnahme weigerte sie sich, mit den anderen zu posieren, und so musste hingenommen werden, dass sie in vorderster Reihe aufrecht blieb, ganz allein, im Schutz ihres strubbeligen Haars. Sie sind vereint und Marcel ist nicht da. Und doch, aufgrund der Hexerei einer unbegreifbaren Symmetrie, jetzt, da er einen nach dem anderen zu Grabe getragen, existieren sie nur noch dank seiner und der Hartnäckigkeit seines treuen Blickes, er, an den sie noch nicht einmal dachten, als sie ihren Atem anhielten und der Photograph den Auslöser seines Apparates bediente, er, der nun ihr einziger, fragiler Schutzwall ist gegen das Nichts, und genau deshalb nimmt er dieses Photo auch wieder aus der Schublade, in der er es sorgfältig aufbewahrt, obgleich er es verachtet, wie er es im Grunde genommen immer schon verachtet hat, denn sollte er eines Tages versäumen, dies zu tun, nichts bliebe von ihnen, das Photo würde wieder zu einer bewegungslosen Anordnung schwarzer und grauer Flecke und Jeanne-Marie für immer aufhören, ein kleines, vierjähriges Mädchen zu sein. Er mustert sie manchmal zornig, möchte ihnen ihren Mangel an Hellsichtigkeit vorwerfen, ihre Undankbarkeit, ihre Gleichgültigkeit, aber er trifft auf die Augen seiner Mutter und stellt sich vor, dass sie ihn wahrnimmt, bis tief hinein in die Vorhölle, die noch zu gebärende Kinder gefangen hält, und dass sie auf ihn wartet, selbst wenn Marcel es in Wahrheit nicht ist und es auch
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