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Feenland

Feenland

Titel: Feenland
Autoren: Paul J. McAuley
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1    King’s Cross
     
     
    Der Raum ist voll von Geistern. Durchscheinend wie Quallen,
ausstaffiert in der Mode des Zeitalters von Edward, schlendern sie
durch den jüngst restaurierten Damen-Rauchsalon des Grand
Midland Hotel am Bahnhof St. Pancras, einzeln oder zu zweit, immer im
Kreis, geschickt den Passagieren ausweichend, die auf die Ankunft des
Vier-Uhr-Transeuropa-Expreß warten. Alex Sharkey ist der
einzige Mensch im Raum, der den Geistern auch nur eine Spur von
Beachtung schenkt; um sich die Zeit zu vertreiben, versucht er den
Algorithmus herauszufinden, der ihr scheinbar zufälliges
Promenieren steuert. Er war zwanzig Minuten zu früh da, und
jetzt zeigt die Uhr, die er unterwegs gekauft hat, zwölf Minuten
nach drei, und sein Kunde läßt ihn warten.
    Alex fühlt sich nervös und unbehaglich und schwitzt in
sein nagelneues Cordhemd aus ungebleichter afghanischer Baumwolle.
Der grobe Stoff ist mit kleinen Knoten aus eingewebten Spelzen
durchsetzt, die auf der Haut scheuern. Die Jacke seines Tweed-Anzugs
spannt in den Schultern; obwohl ihm der Verkäufer versichert
hat, daß ihr grünes Karomuster gut zu seinem roten Haar
paßt, findet Alex, daß er darin ein wenig wie Oscar Wilde
aussieht. Für den das liebevoll auf Tradition getrimmte Ambiente
des Damen-Rauchsalons – mit seinen Wänden in Lachsrosa und
Creme, seinen Marmorsäulen und roten Plüschsesseln, seinen
Topfpalmen und lustwandelnden Geistern der Edward-Ära –
wohl eher der passende Rahmen gewesen wäre.
    Alex hat sich in einen niedrigen, zu hart gepolsterten Lehnstuhl
gequetscht, raucht Kette und spürt nach der zweiten Tasse
Espresso das Summen seiner Lebensgeister. Eines hat er heute in
Erfahrung gebracht – daß sie hier einen wunderbaren
Espresso machen, ölig bitter und brühheiß serviert,
in dicken fingerhutgroßen Tassen, wie es sich gehört, mit
einem Zitronenschnitz in der Wölbung des zierlichen
Silberlöffels, daneben ein Täfelchen Pfefferminzschokolade
und ein Glas blitzgefilterten Wassers.
    Koffein ist eine so schlichte, elegante, notwendige Droge.
Alex erinnert sich an einen von Gary Larsons Cartoons aus der Far
Side-Serie: Um einen Baum geschart ein paar schläfrige,
bescheuert dreinblickende Löwen, und in der Ferne ein Nashorn,
das seinem Gefährten eine Tasse Kaffee einschenkt, bis der
genüßlich: »Halt, das reicht!« sagt. Die
Überschrift hieß Morgen-Grauen in Afrika. Alex
muß lächeln, als ihm in den Sinn kommt, wie er beim ersten
Betrachten dieser Szene losprustete. Wie lange liegt das zurück?
Es war ein Weihnachtsfest kurz vor dem Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts. Er muß damals fünf oder sechs gewesen sein,
und sie lebten in dieser feuchten, von Ameisen wimmelnden Wohnung im
zwölften Stock eines Sozialblocks auf der Hundsinsel, mit Blick
auf die Themse. Irgendwie hatte ihm Lexis zu Weihnachten immer ein
Buch besorgt. Um ihn zu fördern.
    Und jetzt sitzt er hier und wartet auf seinen Mann, umgeben von
Hologramm-Geistern und sorgsam darauf bedacht, sich nicht von den
Anzugtypen und reichen Touristen abzuheben, die nur eines im Sinn
haben – den Expreßzug zu besteigen und diesem beschissenen
Land den Rücken zu kehren. Die meisten von ihnen parlieren in
Französisch, der Lingua franca der feinen Leute in der
zunehmend isolationistischen Europäischen Union. Die Frauen sind
herausfordernd gebräunt, gekleidet in durchsichtige Blusen und
sehr kurzen Shorts oder kunstvoll ausgefransten Miniröcken.
Einige tragen den allerletzten Schrei der Bodi-Con-Mode, Tschadors
aus mehreren Schichten durchsichtigen Chiffons, in die bewegte Bilder
und Muster eingewoben sind; sie enthüllen und verbergen die
Brüste, die Rundung eines Schenkels, die glatte braune Haut in
der Mulde des Schlüsselbeins. Die Männer bevorzugen klobige
Anzüge in Erdfarben, schweres Gold an den Handgelenken und ein
diskretes Make-up. Ohrringe blitzen, wenn sie sprechen oder sich in
den hohen vergoldeten Spiegeln hinter der Bar betrachten. Irgendwie
zerrt es an den Nerven, daß die Spiegel nicht auch die Geister
reflektieren. An der Mahagoni-Theke der Bar lärmen ein halbes
Dutzend Ukrainer in abgewetzten schwarzen Anzügen, die eine
Runde Malz-Whisky nach der anderen bestellen und sich zuprosten.
    Eine Frau hat ein Schoßpüppchen. Es sitzt still neben
seiner Herrin, mit einer von Goldtressen gesäumten Uniform in
Rosa und Purpur und einem nietenbesetzten Hundehalsband, an dem eine
Kette festgehakt ist. Das blaue Gesicht mit dem negroiden
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