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Die Schmerzmacherin.

Die Schmerzmacherin.

Titel: Die Schmerzmacherin.
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Dezember.
    Noch nie waren so viele Raubvögel zu sehen gewesen. Die lange Kälte hatte sie aus den Wäldern herausgetrieben. Sie saßen auf den Pfosten der Feldbegrenzungen und in den Kronen der Obstbäume. Sie kauerten auf den Köpfen der Heiligenfiguren an den Brücken und auf den Kreuzen an den Weggabelungen. Bewegungslos hockten sie in der Wintersonne. Ihre Umrisse dunkle Drohungen vor den Schneefeldern und dem wolkenlosen Himmel. Nichts in Bewegung. Eis und Schnee und die Sonne und kalt. Das breite Tal und die Hügel am Rand. Alles weißglitzernd und der dünnblaue Himmel.
    Sie musste langsam fahren. Sie war die Erste auf dem neuen Schnee. Sie fräste eine Spur in die glatte Schneedecke. Aber es gelang kein ruhiges Fahren. Unter dem Neuschnee der Nacht führten die alten Spuren aus Eis und gefrorenem Matsch ihre Räder. Im Rückspiegel sah es aus, als zöge sie eine gerade Spur. Das Fahren war aber ein Gerumpel. Ihr Auto wurde von den Rillen unter dem Schnee umhergeworfen. Sie hatte versucht, aus diesen Eisspuren herauszukommen. Sie hatte so fahren wollen, wie es aussah zu fahren. Gleiten. Sie hatte gleiten wollen. Gleiten so glatt wie der Schnee. Sie war dann ins Rutschen geraten und viel zu nah an die Böschung zum tiefen Straßengraben hinuntergekommen.
    Sie fuhr langsam. Sie ließ das Auto dahinschleichen. Ließ die Räder sich selbst den Weg in den Rillen suchen. Sie saß vorgebeugt. Das Rumpeln und Schütteln gegen den Bauch und die Brust. Sie schaute hinaus. Schaute in die Schneeweite hinaus und wie das weiße Tal auf sie zukam und wie sie es durchschnitt. Wie das weiße Tal an ihr vorbeizog und zu beiden Seiten wegsank.
    Den Bussard auf dem Brückengeländer hatte sie schon von weitem gesehen. Bei jedem Schlag gegen die Achsen. Bei jedem Knirschen der Räder in einer Querrinne. Sie dachte, der Vogel würde auffliegen. Wegfliegen. Flüchten. Sie begann zu blinzeln. Der Vogel würde sich abstoßen. Er würde die Flügel ausbreiten und wegstreichen. Sie blinzelte in der Erwartung, der Himmel vor ihrer Windschutzscheibe verdunkle sich und einen Augenblick würde dieser Vogel den Blick ausfüllen.
    Wie dieser Vogel Wasser fände, dachte sie. Wenn doch alles in tiefem, tiefem Winterschlaf versunken war und das Wasser des Flüsschens unter der Brücke eine einzige dicke Eiswelle und Schnee angeweht darauf.
    Der Bussard bewegte sich nicht. Der Bussard blieb auf dem Brückengeländer sitzen. Sie hatte den Fuß fast ganz vom Gas genommen. Ihr alter Kia schnurrte langsam über die Brücke. Sie schaute den Vogel an. Weit vorgebeugt drehte sie den Kopf nach links und schaute rechts hinauf den Vogel an. Die gelbschmutzigen Krallen waren um das Geländer geklammert. Hellbraun flockige Federn pludrig an den Fängen. Dunkelbraun fleckige Federn den Körper hinauf. Sie beugte sich noch weiter vor. Ihr Gesicht knapp an der Windschutzscheibe. Einen Augenblick. Der Vogel. Die Lider. Eine gelbe Iris war zu sehen und gleich wieder hinter wachsfarbenen Häuten verborgen. Der Vogel wandte sich ab. Während sie an ihm vorbeiholperte. Er drehte den Kopf zur Seite. Die Bewegung nur an den Federn am Hals wahrzunehmen und sein Umriss dann seitlich. Der abgewandte Kopf gleich wieder erstarrt. Die Augen abgewandt. Weggedreht. Nicht weggeflogen.
    Sie ließ das Auto weiterfahren. Sie starrte vorne hinaus. Starrte sich in das Weiß fest. Sanft gestoßen und geschüttelt von den Bewegungen des Lenkrads. Ihr Schaffellmantel dämpfte die Stöße und Schläge. Der Motor stotterte, und der Wagen stockte. Sie ließ den Fuß gegen das Gaspedal sinken, und das Auto fuhr weiter. Sie ließ sich weitertragen. Dann schaltete sie in den Leerlauf und ließ das Auto auslaufen. Sie blieb über das Lenkrad geworfen und spürte die kleine Ungenauigkeit der Ventile im Rütteln des Motors. Das Auto stand still und vibrierte. Der Motor brummelte. Aber draußen. Sie blieb im Schauen.
    Sie hatte die Sonne hinter sich. Vor ihr der Schnee. Alles schneebedeckt und glatt und glitzernd hell. Alles, was sie sehen konnte, weiß und weich und unter pudrigem Schnee. Die Straße weiter vorne schneebedeckt nicht mehr von den Feldern zu unterscheiden. Sie zog den rechten Handschuh aus und griff auf den Nebensitz. Sie tastete nach der Flasche. Drehte sich nicht aus dem Schauen weg. Die Flasche war eiskalt. Die Flasche war die ganze Nacht im Auto gelegen und so kalt wie draußen. Sie hielt die Flasche vor sich und drehte den Verschluss auf. Zum Trinken musste sie sich aber
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