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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung
Autoren: Meša Selimović
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hinabstieg
(sie hatte gelacht, als es Mitternacht schlug), wunderte ich mich nicht, obwohl
ich wußte, wie merkwürdig es war, daß ich einem nahezu unbekannten Mädchen
erzählt hatte, was ich noch niemandem anvertraut, was ich erst in ihrer
Gegenwart in Worte gefaßt hatte. Ich hatte gesprochen, weil der Mond schien,
weil die verkohlten Mauern keine Erinnerungen bargen, weil sich zwei schlanke
weiße Arme zärtlich um den morschen Zaun schlangen, weil die schwarzen
Kinderaugen eines erwachsenen Mädchens nachdenklich und sanft schauten, weil
sie mir zuhörte wie noch nie jemand in meinem Leben. Ich versuchte nicht, mir
das zu erklären, es war nicht nötig. Ich wußte nur, daß ich einen Halt gefunden
hatte. Die Grenzen waren gezogen.
    Wir hatten uns nicht verabredet,
aber am nächsten Abend trafen wir uns wieder am Zaun zwischen den beiden
Gärten. Auch am dritten Abend und am vierten, und der Sommer wurde kühler, aber
wir verbargen uns in der Dämmerung, weil wir nicht wollten, daß irgend jemand
erfuhr, wie sehr wir einander brauchten. Und doch wußten es alle.
    Immer öfter war ich mit ihr
zusammen, auch wenn ich allein war. Ich trug ihren Namen in mir und den
flimmernden Schatten, den der Baum warf. Und ich war erfüllt von ihrer tiefen
Stimme, die schöner war als das Gemurmel des Wassers.
    Die Papiersterne und das Bild des
Sultans wurden bis zur nächsten feierlichen Gelegenheit in den Ladenfestern belassen,
und sie waren nicht mehr lächerlich. Ich sah sie nicht. Zerstreut schrieb ich
die Gesuche an das Gericht und die Briefe an die Soldaten, und ich überlas sie
noch einmal, falls ich hinzugesetzt hätte: meine Geliebte. Es wäre peinlich
gewesen, wenn der Kadi das auf einer Beschwerde wegen einer rückständigen
Schuld gelesen hätte.
    Im Herbst schlug ich ihr vor, daß
wir heiraten sollten. Ich wünschte es aufrichtig, ich konnte mir nichts anderes
vorstellen, aber ich sagte ihr ehrlich, daß meine Verhältnisse schlecht seien,
daß ich nichts besäße und keine Aussicht hätte, je etwas zu besitzen, und daß
sie durch eine Verbindung mit mir nichts gewinnen würde. Vielleicht sei es
falsch, ihr dieses Angebot zu machen, aber die Liebe berechtige mich dazu,
ungerecht zu sein. Ich würde sie lieben, und wir würden nichts haben, ob ihr
das genüge?
    Sie aber war noch törichter als ich.
»Wir werden uns lieben«, sagte sie ernst, »und das ist viel, das ist alles.
Etwas anderes brauche ich nicht.«
    Ich scherzte, daß es am Anfang
sicher schön sein würde, und später, wenn ich ihr langweilig geworden wäre,
würden wir uns einrichten, so gut es ginge, wir würden unsere Liebe auffrischen
wie der alte Džezar, der sich dreimal von seiner Frau getrennt und sie jedesmal
wieder geheiratet hatte.
    »Er hat sich und sie unnötig gequält«,
empörte sich Tijana. »Er hätte sich eine Frau suchen sollen, von der er sich
nie trennen würde. Oder allein bleiben. Es hat keinen Zweck, ein Kleid zu
flicken, geschweige denn die Liebe. Besser ist es, fortzugehen.«
    »Du würdest fortgehen?«
    »Ja.«
    »Weil du mich nicht liebst?«
    »Weil ich dich liebe.«
    Diese weibliche Logik war mir nicht
ganz klar, aber ich wußte, daß sie die Wahrheit sagte. Und ich freute mich, daß
sie sie sagte, obwohl sie zu ernst und unwiderruflich klang. In diesem
Augenblick verlangte ich nichts anderes.
    Bald darauf war unsere Hochzeit.
Mula Ibrahim und der Besitzer des Nachbarladens, der alte Barbier Omer Tandar,
waren unsere Zeugen. Tijana Bjelotrepić, Tochter des verstorbenen
Mićo und der verstorbenen Ljubinka, wurde Tijana Šabo.
    Mula Ibrahim war nicht überrascht,
als ich es ihm sagte, obwohl er das Ganze sicherlich nur für eine
vorübergehende Laune gehalten und nicht geglaubt hatte, daß ich heiraten würde
(eine Christin, noch dazu eine mittellose!). Er hatte keine Einwände. Ich sah
das Erstaunen auf seinem Gesicht – vielleicht glaubte ich es auch nur zu sehen,
weil ich es erwartet hatte –, aber was er sagte und tat, war anständig. Er
pries das Mädchen und seine Familie, pries meinen Ent schlug, bot sich als
Trauzeugen an, bat den lustigen Hadschi Omer, mit uns zum Kadi zu gehen, und
dann führte er uns in sein Haus, wo uns ein richtiges Festmahl erwartete. Mula
Ibrahims stille Frau empfing uns herzlich; sie weinte, als sie Tijana küßte,
und zeigte uns die drei Kinder (zwei waren gestorben). Hadschi Omer sagte
lachend: »Der Tod nimmt sie zu sich, und sie werden sofort ersetzt.« Die Frau
sah uns an, traurig und
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