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Verico Target

Verico Target

Titel: Verico Target
Autoren: Nancy Kress
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Vierzehn
Minuten nach Beginn der Mitternachtsshow im Caesars Palace verlor das
sechste Revuegirl in der Reihe, die zur Linken die ›Treppe zum
Paradies‹ herabkam, das Gleichgewicht.
    Ihr Name war Sue Ann Jefferson, und sie stammte aus Amarillo,
Texas; in Las Vegas nannte sie sich Taffy. Ihre langen Beine hatten
bereits die ganze Neun-Uhr-Show hindurch gezittert, und das Gesicht
unter dem enganliegenden, mit blauen Pailletten bestickten Helm,
über dem halbmeterlange eisblaue Federn wippten, war so
weiß wie die Leinenservietten über den schwarzen
Ärmeln der Kellner. Die riesengroßen braunen Augen blieben
weit aufgerissen während des Sturzes, der sie zusammen mit ihren
ausladenden blauen Engelsflügeln direkt gegen den Rücken
des Revuegirls eine Stufe unter ihr schleuderte.
    Dieses Mädchen – mit der aufregendsten Figur inmitten
aufregender Figuren – geriet ins Schwanken. Um das eigene
Gleichgewicht nicht zu verlieren und um jenes von Sue Ann/Taffy
wiederherzustellen, warf sie ihren sensationellen Körperbau
abrupt rückwärts; ihr Lächeln blieb unverändert
und so hart und falsch wie die blauen Diamanten der schulterlangen
Ohrgehänge, während sie seitlich nach hinten zischte:
»Schlampe! Kannst du nicht die Finger von dem Zeug lassen, wenn
du arbeitest?« Achtzehn Stufen weiter unten sang der
berühmte Sänger im weißen Smoking weiter, ohne etwas
bemerkt zu haben.
    Schwankend richtete Sue Ann sich auf, machte auf
paillettenglitzernden Zwölfzentimeterabsätzen den
nächsten hüftschwingenden Schritt hinab und strauchelte
erneut. Diesmal gaben ihre Knie nach, und sie setzte mit dem
Hinterteil hart auf – genau in jenem Augenblick, als das starr
ins Publikum hinablächelnde Girl hinter ihr den Fuß
ausstreckte, um ebendiese Stufe einzunehmen. Der Fuß traf
jedoch nicht auf festes Terrain, sondern auf Sue Ann. Das
Mädchen stolperte, stieß einen leisen Schrei aus, als es
über Sue Ann fiel, und zusammen landeten die beiden auf dem
sensationellen Körper direkt vor ihnen. Im nächsten Moment
segelte die ganze linke Seite der ›Treppe zum Paradies‹ in
einem Gewirr von Federn, Flügeln, Fransen, Beinen, Brüsten
und wie Ketten durch die Luft schwirrenden Ohrgehängen die
Stufen hinab.
    Das Publikum lachte und johlte. Der berühmte Sänger
riskierte ein Auge über die Schulter nach hinten, erblickte den
zuckenden Weiberhaufen am unteren Ende der Treppe und sang weiter.
Seine Augen waren Vulkangestein.
    Aus der Reihe der Revuemädchen auf der rechten Seite der
Treppe sah Jeanne Cassidy das alles, bewegte die Arme mit den
Engelsflügeln und machte den nächsten Schritt nach unten.
Sie wußte, daß Sue Ann nichts nahm. Sue Ann war Jeannes
beste Freundin. Seit vierundzwanzig Stunden hatte Sue Ann nun bereits
diesen glasigen Blick; sie zitterte ohne Unterlaß, sie schlief
nicht, sie aß nicht. Aber sie wollte Jeanne nicht sagen, woran
das lag.
    Die gefallenen Engel rappelten sich hoch und stiegen
rückwärts die Treppe nach oben, bis sie wieder mit der
Reihe auf der rechten Seite übereinstimmten. Nur Sue Ann blieb
dort, wo sie wie ein Häufchen Elend auf der Bühne hockte
und ins Leere starrte. Lächelnd setzten die beiden Reihen sich
wieder in Bewegung und stiegen langsam die Treppe hinab; die linke
ging sorgfältig um Sue Ann herum. Dawn hatte einen Ohrring
verloren. Tiffanys Strumpf war zerrissen, und ihr Knie blutete. Das
Johlen im Publikum – gekleidet in Cowboyjacken und
Abendanzüge, in Polohemden und Shorts – verklang, als sich
zusehends Unsicherheit breitmachte.
    Der berühmte Sänger beendete sein Lied und begann ein
neues. Die Arme auf die Schultern der Nachbarinnen gelegt, schwangen
hinter ihm die Mädchen in einer Reihe halbnackter Körper
und langer Beine, die Sue Ann vor den Blicken des Publikums
schützte, die Hüften. Jeanne sah den Regisseur hinter der
Bühne hervorstürzen, Sue Ann unter den Achseln packen und
davonzerren. Kempers aufgedunsenes Gesicht war dunkelrot.
    Das Lied war zu Ende. Das Publikum kreischte und applaudierte. Der
berühmte Sänger verbeugte sich übertrieben tief, und
sein toupiertes Haar hüpfte nach vorn. Der Vorhang ging zu.
    Jeanne drängte sich zwischen den glänzenden,
schnatternden Körpern hindurch, und wenn die Wand aus warmem
Fleisch zu undurchdringlich wurde, setzte sie die Ellbogen ein.
»Auuu! Miststück…!«
    »Wo ist sie? Fred, wo ist sie hin?«
    »Rausgeflogen!« brüllte Kemper. »Da sitzt
’ne Million Dollar unten im Publikum, und ihr Schlampen
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