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Schimmer der Vergangenheit (German Edition)

Schimmer der Vergangenheit (German Edition)

Titel: Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
Autoren: Joy Fraser
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Minnesota 1999
     
    Sie fühlte sich beobachtet.
    Wie konnte ein Stapel bedrucktes Papier einen Menschen derartig unter Druck setzen und ihn seiner gewohnten Konzentrationsfähigkeit berauben? Er schien sie zu hypnotisieren, sich unaufhörlich und drängend in ihre Gedanken zu schleichen.
    Sie saß in ihrem nagelneuen Auto, neben sich ein paar lose Musikkassetten und eine Tüte Donuts, die zu Mutters Abschiedsritual gehörten wie die Schärfe zu ihrem legendären Chili.
    Die Befürchtung, die Tochter könne an nur einem Vormittag verhungern, war ebenso typisch wie liebenswert und brachte sie noch jetzt zum Schmunzeln. Dieses Wochenende hatte sie zu Hause genossen, und meistens fand sie es echt Spitze, keine Geschwister zu haben. So stand sie immer im strahlenden Mittelpunkt der Eltern. Diese freuten sich überschwänglich, wenn die Tochter an manchen Wochenenden vom College nach Hause kam, und verziehen ihr großzügig so manchen Ausrutscher, für den die meisten ihrer Freundinnen auf der Stelle enterbt worden wären oder zumindest mit Hausarrest bis zu den dritten Zähnen hätten rechnen müssen.
    Zum ersten Mal fuhr sie die lange Strecke von ihren Eltern vom Land nach St. Paul selbst mit dem Auto, das sie von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Da ihr Vater eine Flugschule besaß, ließ er sie meist durch einen seiner besten Piloten vom College abholen, oder er kam selbst, wenn sein straffer Zeitplan es zuließ. In diesem Fall war sie innerhalb von zwei Stunden zu Hause. Mit dem Wagen brauchte sie von der Farm bis nach St. Paul vier Stunden, aber sie wollte die Strecke unbedingt selbst im neuen Auto fahren. Nicht alle Wochenenden waren für ihre Eltern reserviert, denn schließlich wollte sie auch noch etwas Zeit mit dem verboten gut aussehenden Tom verbringen.
    Stirnrunzelnd blickte sie erneut auf das dicke Manuskript im Fußraum des Beifahrersitzes, das die Eltern ihr mit der Maßgabe überreicht hatten, es allein und in Ruhe zu lesen. Seither war es ihr keine Minute aus den Gedanken gewichen. Um was es ginge, hatten ihre Eltern nicht verraten wollen und nur bedeutungsvoll gelächelt. Mehrmals hatte sie in Erwägung gezogen, einfach anzuhalten und zu lesen. Es musste sich um eine Art Familienchronik handeln. Das Tagebuch der Großmutter, oder so etwas. Beim flüchtigen Durchblättern hatte sie den Namen ihrer Mutter im Text entdeckt. Es hätte allerdings auch der Name der Großmutter gemeint sein können, da schon seit einigen Generationen alle Töchter einfallsreicherweise Isabel hießen. Sie hatte diese Tradition schon immer als seltsam empfunden und war dankbar, dass ihre Eltern sich bei ihrer Namengebung die Freiheit der Umgestaltung genommen und ein „Ann“ vor Isabel gestellt hatten.
    Ann-Isabel bog eben nach St. Paul ein, als ihr Vordermann abrupt bremste. Sie schlug mit der Hand auf das Lenkrad und murmelte einen Fluch. Es klingelte im Wagen, und sie wühlte unter der Donuttüte nach dem Handy.
    „Ja?“
    „Hallo Spatz, hier ist Daddy. Bist du schon angekommen?“
    Seine Stimme klang fröhlich und holte sie ein wenig aus ihrer Frustration.
    „Nein, ich stehe drei Meter vor der Haustür im Stau.“
    „Oh nein, du Armes. Na schön, ich wollte nur hören, ob du gut angekommen bist ...“
    Er zögerte.
    „Was ist denn, Daddy? Möchtest du noch etwas sagen?“
    Schweigen. Angestrengt starrte sie auf die Bremslichter des Vordermannes.
    „Ja, dass ich dich lieb habe“, sagte er ein bisschen zu hastig. Ihn bedrückte etwas, sie kannte ihn zu gut, als dass es ihr hätte entgehen können.
    „Daddy?“
    „Und viel Spaß beim Lesen. Du fängst heute noch an, ja?“
    „Okay, Daddy, das hatte ich ohnehin vor. Bye, bye.“
    Er hatte aufgelegt, und ihr war eigenartig zumute. So merkwürdig benahm sich Daddy selten. Normalerweise sprach er offen aus, was er zu sagen hatte. Nervös trommelten ihre Finger auf das Lenkrad ein. Wenn die nicht bald fahren, dann lasse ich die Kiste einfach hier stehen, ging es ihr durch den Kopf. Als hätte sich jemand Unsichtbares von der Drohung einschüchtern lassen, erloschen die Bremslichter des Vordermannes, und er fuhr langsam an. Erleichtert senkte sie den Fuß über das Gaspedal.
    Endlich zu Hause angekommen, setzte sie hastig Teewasser auf, ließ ihre Tasche achtlos vor der kleinen Küchenzeile stehen und machte es sich mit dem Manuskript auf dem Sofa gemütlich. In den nächsten Stunden würde sie keiner stören, denn Tammy war mit ihrem Freund unterwegs. Lieber
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