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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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gestanden, Lieutenant, würde ich gern wissen, was Sie denken. Schuldig oder nicht schuldig?«
    »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, stammelte Léo. »Ich weiß nur, dass ein Freispruch eine Katastrophe für unsere Dienststelle wäre. Ich habe den Eindruck, dass um meinen Posten russisches Roulette gespielt wird.«
    »Aber dafür können Sie nichts. Sie waren nicht einmal mit den Ermittlungen betraut.«
    »Meine beiden Vorgesetzten haben diesen Fall bearbeitet. Und Sie wissen so gut wie ich, dass diese Sondereinheit mit Maxime Kolbe steht und fällt. Die Kommissarin wird sich die Chance, ihn loszuwerden, nicht entgehen lassen.«
    »Und Alain Broissard?«, hakte Firsh nach, in dessen Stimme plötzlich Besorgnis anklang.
    »Wenn Maxime fällt, wird Alain mit ihm untergehen.«
    Die letzten Schimmer des Tageslichts fielen durch die Kirchenfenster und warfen einen farbigen Glanz auf die Marmorplatten. Die Traurigkeit linderte kurz die stechenden Schmerzen im Körper des Rechtsmediziners. Seit dem Beginn der »Affäre von Jarnages«, wie sie von den Journalisten genannt wurde, verstand er nicht, wie sein Weggefährte, sein Freund, einen solchen Mist hatte bauen können. Dieser Fall stank förmlich zum Himmel, und trotzdem hatte Broissard weiterhin darin herumgestochert, als hoffte er geradezu, alles würde ihm um die Ohren fliegen.
    Léo gingen ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf, als er auf seine Uhr sah. Vor Angst zuckte er kurz zusammen. Die Zeit der Ungewissheit neigte sich dem Ende zu. Die Stunde der Entscheidung war nah.
    »Die Beratungen dürften beendet sein. Ich will nicht, dass Maxime diesen Moment allein durchstehen muss«, sagte er im Aufstehen.
    »Léopold ...«
    »Ja?«
    »Wenn es Ihnen danach ist, dann schauen Sie doch einfach bei mir vorbei. Wir wärmen meine rheumatischen Knochen mit einer guten Flasche Wein. Das ist besser als nichts.«
    »Ich werde versuchen, dran zu denken.«
    »Und wenn Ihnen Alain über den Weg läuft, dann sagen Sie ihm, dass sein alter Freund an ihn denkt.«
    Léo stürzte sich in den peitschenden Regen und lief quer über den Hof des Gerichtsgebäudes. Er hielt dem Wachmann, der vor den gewaltigen Türen des Schwurgerichts stand, seinen Ausweis hin. Er nahm die Ruhe vor dem Sturm in sich auf und betrat den überheizten Gerichtssaal.
    Etwa fünfzig Personen drängten sich in einer Atmosphäre drückender Schwüle, denn die Neonröhren glühten regelrecht. Kondensierte Wassertropfen liefen über die Fensterscheiben. Ein starker Geruch nach Schweiß verriet die Anspannung, die in der Luft lag. Die vergilbten Wände vermittelten die Illusion, man befinde sich in einer Seifenblase, die gleich platze. Das Gemurmel und Getuschel im Saal schwoll zu einer verstörenden Kakophonie an.
    Die Geschworenenbänke waren noch verwaist. In der Mitte des Saals waren die Beweisstücke ausgebreitet. Makabre Bilder hinter Plexiglasscheiben, Fotos von einem toten Kind, das in einem Feld aufgefunden worden war, lagen neben Aufnahmen von der Obduktion, die in Großaufnahme die Verstümmelungen zeigten, die dem Kind zugefügt worden waren. Ausgerissene Zähne, verbrannte Fingerbeeren, Blutergüsse, äußere Verletzungen. Der Rechtsmediziner hatte daraus den Schluss gezogen, dass der Junge von einer wahren Bestie misshandelt worden war.
    In der ersten Reihe versuchte der Staatsanwalt die in den Armen ihres Ehemannes kauernde Mutter zu trösten. Die Eltern des Opfers hatten dem gesamten Prozess beigewohnt und dabei stillschweigend die detaillierte Schilderung des Martyriums ihres Sohnes über sich ergehen lassen. Alle beide bemühten sich, die Fassung zu behalten, aber ihre geröteten Augen und die nervösen Zuckungen in ihren Schultern verrieten den unvorstellbaren Kummer, der sie schier erdrückte.
    Gegenüber den Bänken der Geschworenen saß der Angeklagte Gérard Maurois. Von der Presse »die Bestie von Jarnages«, »der Kinderschänder des Departements La Creuse« genannt, starrte dieser kleine, schwächliche Mann von etwa fünfzig Jahren in einem fort Kommissar Maxime Kolbe an. Léo bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch das Gewühl zu seinem hochgewachsenen Chef.
    Im gleichen Moment läutete es, und der Protokollführer verkündete den Prozessbeginn.

4
Paris,
Justizpalast
    Kommissar Maxime Kolbe zuckte zusammen, als sich der Vorsitzende dem Mikrofon näherte. Er spürte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren, ahnte, dass die Menge in seinem Rücken den Atem anhielt. Seine Karriere, ja,
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