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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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1
Le Havre,
Sondereinheit
    Der November zog sich hin. Es wurde immer früher dunkel, und die Nächte wurden immer länger. Die sinkenden Temperaturen, der Mangel an Sonnenlicht – alles trug dazu bei, die Menschen zu ermüden, sie reizbar zu machen. Das Eingesperrtsein in den eigenen vier Wänden, die ungesunde räumliche Enge – all diese Zwänge schufen einen fruchtbaren Nährboden für Ausschweifungen und Verbrechen aller Art.
    Alain Broissard hasste diesen Monat.
    Vor sich hin schimpfend stieg er aus dem Waggon aus. Während der Fahrt hatte er versucht, ein Nickerchen zu machen – er fühlte sich gestört von den Reisenden, die verstohlene Blicke auf die Pistole unter seiner Jacke warfen. Sein Abzeichen hatte nichts genutzt. Selbst Polizisten flößten kein Vertrauen mehr ein. Nachdenklich kraulte er seinen Bart. Vor allem Polizisten, korrigierte er sich.
    Da er nicht schlafen konnte, hatte er sich in die Akte über diesen neuen Fall vertieft. Mit einer geradezu zwanghaften Sorgfalt arbeitete er sie durch und wollte zwischen den Zeilen alles um sich herum vergessen.
    Er suchte die Bahnhofstoiletten auf, ging in eine Kabine und verriegelte die Tür. Diese verfluchte Migräne wurde er einfach nicht los, sie hatte ihn wieder aus heiterem Himmel überfallen. Er wühlte in seiner Aktentasche nach Tabletten und hoffte inständig, der Schmerz möge nachlassen. Aber der Geruch nach Urin, vermischt mit dem Minzduft eines Raumsprays, ließ ihn die Kabine fluchtartig verlassen.
    Auf das Waschbecken gestützt, blickte er in den riesigen Spiegel an der Wand. Das grelle, senkrecht einfallende Licht betonte seine hohlen Wangen und unterstrich erbarmungslos die purpurvioletten Schatten unter seinen Augen. Er kämmte seinen Schnurrbart und bemerkte, dass seine Wangen von Schrammen überzogen waren, die er sich beim Rasieren beigebracht hatte. Müdigkeit und Stress machten ihn immer ungelenker. Mit siebenundvierzig Jahren war sein Körper knorrig, gedrungen, und auch wenn die Muskeln nach wie vor plastisch hervortraten, fehlte ihnen die Kraft, war er ausgelaugt von allzu vielen Strapazen.
    Auf der Auffahrt wickelte er sich den himmelblauen Schal um den Hals, knöpfte seinen Überzieher wieder zu und ging auf den jungen Polizisten in Uniform zu, der ihm vom Parkplatz aus mit ausgestreckten Armen zuwinkte.
    »Ich habe Sie erwartet. Brigadier Carrère, Kriminalpolizeidirektion Rouen. Ich soll Ihnen zur Hand gehen.«
    »Alain Broissard. Capitaine der Sondereinheit.«
    »Oh, ich weiß, wer Sie sind! Es ist eine Ehre, mit Ihnen zu arbeiten.«
    Broissard starrte ihn an. Der etwa zwanzigjährige Brigadier, der die Statur eines Rugbyspielers mit Stiernacken hatte, glich auf seltsame Weise ihm selbst, als er in dem Alter war. Nur die Augen strahlten nicht in der gleichen Weise.
    »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
    »Ja, an der Polizeihochschule. Sie haben dort an einem Kolloquium über Ermittlungsmethoden teilgenommen.«
    »Das ist ziemlich lange her.«
    »Ich habe keinen einzigen Ihrer Vorträge verpasst! Ihre Vorgehensweise war echt originell. Das kleine Einmaleins des versierten Kriminalisten.«
    »Es hat dir also etwas gebracht?«
    »Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, die dort erworbenen Kenntnisse praktisch anzuwenden. Aber in Anbetracht dessen, was uns heute Abend erwartet, wird es nicht mehr lange dauern«, sagte der Brigadier und schlug dabei die Tür zu.
    Das Blaulicht auf dem Dach eingeschaltet, fuhren sie mit Vollgas los, in die Nacht hinein.
    Die von Blaulichtern gesprenkelte Stadt Le Havre erstreckte sich in harten Linien und rechten Winkeln vor ihnen. Straßen und Plätze waren verwaist – die eisige Kälte hatte die Menschen in ihre Häuser getrieben. Vor dem Rathaus – einem ockerfarben beleuchteten Bunker – flatterten zerfetzte Fahnen in den französischen Nationalfarben träge im Wind. Wracks von Motorrollern türmten sich am Fuß der Treppe und bildeten eine Art chaotisches, kriegerisches Totem inmitten aufgeschlitzter Müllsäcke. Ein Tornado schien den Platz vor dem Rathaus verwüstet zu haben, und die Fensterscheiben auf der gesamten Länge der Avenue Foch schienen unter heftigen Windstößen geborsten zu sein. Der Brigadier nahm den Fuß vom Gas und deutete auf die Überreste einer Pizzeria, in der ein völlig ausgebrannter Renault 19 verkeilt war.
    »Allein heute haben sie sechzehn Autos in Brand gesteckt und zwei unserer Leute krankenhausreif geprügelt. So was habe ich noch nie erlebt – zum
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