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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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seine ganze Existenz hing von den Überzeugungen neun Unbekannter ab, neun Personen, die sich untereinander nicht kannten und die ganz verschiedene Meinungen vertreten mochten. Und dann erging ein Urteil, das allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit widersprach.
    »Das Gericht und die Geschworenen, die als Spruchkörper zusammengetreten sind, erklären nach eingehender Beratung und Abstimmung, entsprechend den gesetzlichen Vorschriften, den Angeklagten Gérard Maurois einstimmig für nicht schuldig.«
    Im Saal erhob sich lautstarker, wütender Protest. Das erste flüchtige Lächeln des Angeklagten galt dem Kommissar. Es war ein rachsüchtiges Lächeln, kalt und hart wie ein Dolchstoß. Zu viel Gewalt und Hass verband diese beiden Männer. Das an diesem Novemberabend bei prasselndem Regen ergangene Urteil zerschnitt das Band zwischen ihnen.
    Der Anwalt der »Bestie von Jarnages« fuhr Maxime an und deutete drohend mit dem Finger auf ihn.
    »Wir sind noch nicht fertig miteinander, Kommissar Kolbe! Sie werden für Ihre Vergehen bezahlen! Für den Tod der Frau und des Sohnes meines Mandanten! Ich werde Sie vor dieses Gericht hier bringen! Glauben Sie mir, ich bin noch nicht mit Ihnen fertig!«
    Maxime antwortete nicht. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Rückgrat stützte ihn nicht mehr, es war so, als wäre es unter dem doppelten Schlag seiner Bestürzung und seiner Verantwortung zerbröselt. Wie hinter einer Nebelwand nahm er Léopolds Arm wahr, der ihn stützte und so verhinderte, dass er hinfiel.
    »Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung, Maxime Kolbe!«
    Ja, das tue ich.
    Wie könnte es anders sein?
    Er musste nicht einmal die Augen schließen, um den mit einem Handy aufgenommenen Film in Technicolor wieder vor sich ablaufen zu sehen. Die mit Brecheisen und Benzinkanistern bewaffneten Einwohner von Jarnages hatten einige Stunden, nachdem bekanntgegeben worden war, dass Anklage gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger erhoben würde, dessen Haus verwüstet. Sie hatten ihrer Wut freien Lauf gelassen, ehe sie das Haus des »Kinderschänders der Creuse« in Brand setzten, um ihre Hexen zu verbrennen und ihren Zorn durch die Flammen zu besänftigen. Niemand von ihnen hatte geahnt, dass sich sein achtjähriger Sohn und seine Frau auf den Dachboden geflüchtet hatten. In den Trümmern hatten die Feuerwehrleute eine Pietà des Schreckens gefunden, zwei ineinander verschlungene Körper, die bis auf die Knochen verbrannt waren.
    Er stürzte zum Ausgang, von einem dumpfen Schmerz gebeugt, der den älteren in seiner Magengrube verstärkte.
    Schmerzen, die ihn nie verließen. Er verdankte ihnen kurze Nächte, die von Alpträumen durchzogen waren, und Tage, die mehr und mehr von ihnen überschattet waren. Er musste einräumen, dass er nicht mehr gegen sie ankämpfte. Schließlich handelte es sich um einen vergeblichen Kampf, der von vornherein verloren war. Das kalte Monster, das er in sich trug, fiel ein weiteres Mal über seine Erinnerungen her, und das Vergessen, der einzige mögliche Balsam, würde ihm nicht zuteilwerden.
    Er wusste es.
    Er hatte es immer gewusst.
    Léo zog ihn nach draußen. Die frische Luft verschaffte ihnen keine Erleichterung. Sie stießen gegen die Menge, die sich in den Ehrenhof ergoss, und so mussten sie um das Gebäude herumgehen, um der Phalanx aus Journalisten und entgegengestreckten Mikrofonen auszuweichen.
    »Kommissar Maxime Kolbe! Hierher! Was sagen Sie zu dem Urteil?«
    »Was sagen Sie zu den Beschuldigungen, die gegen Sie erhoben werden?«
    Salven von Fragen, mit denen er bombardiert wurde und die nur ein Ziel hatten: ihm den Rest zu geben.
    »Kein Kommentar! Kein Kommentar! Lassen Sie uns durch!«, schrie Léopold und schob sich zwischen die Kameras und seinen Vorgesetzten.
    Von allen Seiten bedrängt, begab er sich mit gesenktem Kopf in das Gewühl, ohne Maximes Arm loszulassen. Polizisten kamen ihnen zu Hilfe und versuchten, die zudringliche Menge in Schach zu halten. Als hinter ihnen die Eltern des Opfers zum Vorschein kamen, lenkte dies die Geier von ihnen ab. Der Kommissar sah noch flüchtig, dass der Mutter der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand, dann prasselte auch schon der eisige Schauer auf ihn nieder. Im Regen entfernten sie sich vom Gerichtsgebäude, wobei sie durch Pfützen wateten und dem Unrat folgten, der von dem schmalen Sturzbach im Rinnstein mitgerissen wurde.
    Die übliche Hektik im Hauptkommissariat war eine weitere Bewährungsprobe.
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