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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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auf die er nicht mehr verzichten konnte.
    Nur bei den medizinischen Untersuchungen an der Nationalen Polizeihochschule hatte er gezwungenermaßen darauf verzichtet. Die medikamentöse Abstinenz war eine traumatische Erfahrung gewesen, aber die Mühe hatte sich gelohnt: Seine Blutwerte lagen wieder im Normbereich, und er hatte sein Diplom bekommen.
    Nachdem er die Hochschule verlassen hatte, war Léo ins Dezernat für Sittlichkeitsdelikte eingetreten, dann ins OCLCTIC, eine Dienststelle, die der Generaldirektion der Kriminalpolizei zugeordnet war. Hier arbeiteten Ermittler einer neuen Art, Polizisten, die weder Streifendienst noch Beschattungsmaßnahmen kannten und die ihre Pistole nur auf dem Schießstand benutzten. Eine Abteilung ermittelte in Fällen von Internetbetrug, Produktpiraterie, Offshore-Transaktionen und bei anderen Finanzdelikten. Die zweite Abteilung war für die Bekämpfung der Kinderpornografie zuständig.
    Im Juli 2000 hatte das Innenministerium in Anbetracht der rasanten Zunahme pädophiler Websites beschlossen, eine spezielle Dienststelle einzurichten, die unabhängig agieren sollte und nur wenig Personal zugewiesen bekam. Ihre Hauptaufgabe: die Zerschlagung großer Netzwerke und die Aufklärung bislang ungelöster Fälle. Die Leitung der Dienststelle wurde Kommissar Maxime Kolbe anvertraut, dem ehemaligen Chef des Jugendschutzdezernats, und seiner rechten Hand, Capitaine Alain Broissard. Léo wurde im September rekrutiert, nur wenige Tage nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag.
    Sie waren also insgesamt zu dritt; Polizisten, die nicht in das System eingebunden waren, Einzelgänger, die einen erbarmungslosen Kreuzzug führten.
    Aber diese operative Freiheit des Teams um Maxime Kolbe wurde innerhalb des Apparats nicht gern gesehen. Die Führungskader hofften insgeheim, der Kommissar würde einen Fehler begehen, damit man ihn abservieren konnte.
    Und tatsächlich machte er einen Fehler.
    Ein Geräusch von schweren Schritten, das von der Wendeltreppe kam, riss Léo aus seinen Gedanken. Das von weißen Haaren eingerahmte Gesicht des Leiters des Pariser Instituts für Rechtsmedizin, Stéphane Firsh, tauchte in der Tür auf.
    »So besinnlich, Lieutenant?«
    »Ich wollte nur mal kurz abschalten ...«
    Der alte Mann setzte sich neben Léopold und verzog das Gesicht, während er sich den Schenkel hielt.
    »Verdammte Arthritis ...«, murrte er.
    Seine Hüftknochen entzündeten sich bei der geringsten Feuchtigkeit. Chronische Schmerzen, die durch die zwei Stunden, die er gerade im Zeugenstand verbracht hatte, noch verschlimmert worden waren.
    »Die letzte Verhandlung hat mich erschöpft«, stöhnte Stéphane Firsh, der über fünfundsechzig Jahre alt war. »Dieser beknackte junge Anwalt hat mich mit seinen detaillierten Fragen zur Obduktion ziemlich genervt. Er wollte mich unbedingt zu der Aussage bewegen, der Herzinfarkt des Opfers stehe nicht unbedingt in einem kausalen Zusammenhang mit dem Mordversuch seines Mandanten. Die Alte, die dieser Ganove zu erdrosseln versuchte, war neunzig und hatte ein kaputtes Herz – was hätte ich mehr sagen können? Wie hätte ich als Arzt widerlegen können, dass sie auch dann, wenn dieser Scheißkerl ihr keinen Strick um den Hals gelegt hätte, an diesem Tag einen Herzstillstand erlitten hätte?«
    Stéphane Firsh streckte die Beine aus und massierte sich die Muskeln, um die Krämpfe und die stechenden Schmerzen unter seiner Haut zu lindern. Mit dem Alter ertrug er diese unvermeidlichen Begleitumstände seiner Arbeit, dieses ständige Infragestellen eines kleinsten Skalpellschnittes immer weniger.
    »Und bei Ihnen? Ich habe gesehen, dass da draußen ein regelrechter Menschenauflauf ist. Wie verläuft der Prozess?«, fragte der Mediziner.
    »Ich habe kein gutes Gefühl. Der Anwalt des Angeklagten will unbedingt beweisen, dass sich die Anklage nicht aufrechterhalten lässt, und der Richter scheint ihm recht zu geben. Hinzu kommt, dass der Beschuldigte nach dem, was seiner Frau und seinem Sohn geschehen ist, die Sympathien der Geschworenen hat.«
    »Glauben Sie mir – wenn dieser Mann dieses Kind tatsächlich vergewaltigt und getötet hat, werden die Geschworenen sich nicht beeindrucken lassen. Ein Dreckskerl bleibt ein Dreckskerl, auch wenn er seine Familie verloren hat.«
    »Sie unterschätzen den Einfluss der öffentlichen Meinung. Alle sprechen von einem polizeilichen Übergriff. Das ist ein gefundenes Fressen für die Journalisten.«
    »Sei’s drum! Offen
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