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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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ihrer melodischen Ordnung zu öffnen, aber schon erhoben sich Fragen wie Riffs, die das zentrale Thema übertönten. Ein improvisiertes Jazz-Stück.
    Er begann mit dem Sezieren. Die Musik in seinem Kopf wurde leiser, wie ein Saxophon-Solo, das sich in den Bässen verliert. Seine Hand zitterte leicht, als er das Skalpell ansetzte, um die Kiste der Länge nach aufzuschneiden. Er wühlte zwischen den Polystyrolchips und fand das, was er suchte.
    Die Stiftlampe zwischen den Zähnen eingeklemmt, hielt er sich eine DVD dicht vor die Augen. Die Schutzhülle war nicht beschriftet und trug auch sonst kein Kennzeichen. Schwarz. Geheimnisvoll. Er legte sie auf die dehnbare Folie und begann mit der Analyse der Oberfläche. Er schaltete den Kassettenrekorder ein:
    »Montag, 28. November, 21.12 Uhr, Laderäume des Containerschiffs Dolly Bell . Objekt: pädophile Video-DVD.«
    Er nahm einen tragbaren DVD-Player aus seinem Aktenkoffer, öffnete vorsichtig die Hülle und führte die DVD ein. Die erste Einstellung zeigte ein eintönig blaues Bild, das nach und nach verblasste. In seinem Kopf überblendeten sich die Töne. Der Rhythmus des Schlagzeugs überlagerte seinen Herzschlag. Ein aus dem Nichts aufgetauchtes Crescendo explodierte. Seine Stimme dröhnte in der Tiefe des Laderaums.
    »Sieben Kinder. Vier Mädchen. Drei Jungen. Vier Erwachsene. Männliche Geschlechtsteile. Sichtbare Körper. Maskierte Gesichter. Das Mädchen rechts im Bild hat dunkles Haar. Es dürfte nicht älter als acht Jahre sein. Es hat blaue Flecken an den Handgelenken, Knutschflecken am Bauch, an den Brüsten. Der Mann, der neben ihm liegt, hat eine athletische Figur. Geburtsmal unter der Achsel. Schwarzes Schamhaar. Erigierter Penis. Unbeschnitten ...«
    Jeder Fall hat seine Musik.
    Aber er hatte sich gründlich getäuscht. All dies hatte nichts mit einem Jazz-Stück zu tun.
    Unter seinen Augen entfaltete sich die Partitur eines Requiems.

3
Paris,
Justizpalast
    »Gibt’s was Neues?«
    »Nichts, abgesehen davon, dass die Geschworenen für ihre Beratungen um eine weitere Stunde gebeten haben«, antwortete der Journalist und zog an seiner Zigarette.
    »Und die Fernsehsender? Haben die neue Informationen?«
    »Die wissen auch nicht mehr als wir.«
    »Mist, jetzt können wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, und das bei diesem Regen«, brummte sein Vorgesetzter und betrachtete dabei den Himmel. »Scheißprozess, sag ich dir.«
    Der graue Himmel über der Stadt verfinsterte sich sehr schnell. Schwarze Wolken, die mit Graupel und Schneeflocken beladen waren, sausten den Montmartre herunter und verdunkelten den Himmel über dem rechten Seineufer.
    An diesem Spätnachmittag wurde der Boulevard du Palais von einer ungeduldigen Menge belagert. Polizisten bewachten den Eingang des Gerichtsgebäudes. Wohin man blickte, Kameras, die auf die Goldverzierungen des kunstvoll geschmiedeten Eisengitters gerichtet waren. Geplagt von den allmählich sinkenden Temperaturen, traten die Journalisten von einem Fuß auf den anderen, stampften auf den Boden, um sich aufzuwärmen, und tauschten Informationen aus, während sie in einem fort ihre BlackBerrys konsultierten.
    Im Ehrenhof, am Fuß der Treppe, äußerten Staatsanwälte in Robe Hypothesen über den Ausgang des Prozesses, der Frankreich seit fast zwei Wochen elektrisierte. Die Angst vor einem neuen Skandal und seinen Folgen verdüsterte ihre Gesichter. In dieser Zeit schwerer sozialer Unruhen würden sich die Justiz und die Polizei davon nicht erholen.
    Im Inneren des Gebäudes herrschte eine noch größere Unruhe, die sich mit den beunruhigenden Gerüchten von Flur zu Flur und Stockwerk zu Stockwerk ausbreitete. Genau dieser Anspannung versuchte Lieutenant Léopold Apolline zu entgehen.
    Unter dem Gewölbe der Sainte-Chapelle sitzend, genoss er die relative Ruhe hinter den Kirchenfenstern. Seine grauen Augen folgten dem Lichterspiel, und dabei musste er in einem fort an die letzten Stunden denken. Er hatte den Eindruck, beim langsamen und minutiösen Scharfmachen einer Zeitbombe dabei gewesen zu sein.
    Die Fehler seiner Vorgesetzten anstelle von Sprengstoff.
    Die Beratungen der Geschworenen als Zeituhr.
    Es war unmöglich, die Explosion einzuschätzen.
    Er durchwühlte seine Taschen und zog ein Fläschchen Venlafaxin heraus. Er nahm eine Tablette und zerbiss
sie – und war froh, dass das Medikament auch stimmungsaufhellend wirkte. Dies gehörte zu den wenigen Annehmlichkeiten seiner Erkrankung. Eine Annehmlichkeit,
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