Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
Vom Netzwerk:
1
    Einmal – wir kannten uns ein paar Wochen, aber ich weiß nicht, ob wir da schon Freunde waren – stand ich mit Nilowsky auf dem Bahndamm unter einer dieser Wolken, die vom Chemiewerk herüberkamen und grünlich gelb von den Schwefelabgasen waren. Nilowsky schloss die Augen und hielt das Gesicht nach oben, sodass für mich, der ich einen Kopf kleiner war als er, sein langer Hals noch länger und sein großer Adamsapfel, der bei jedem Schlucken eindrucksvoll hoch- und runterging, noch größer erschien. Er atmete tief ein und sagte: »Du musst diesen Gestank, den nach faulen Eiern, richtig einsaugen musst du den, und deine ganze Körperwärme, die ganze, die musst du zum Einsatz bringen, und dem Schwefelwasserstoff, dem bleibt dann nichts anderes übrig, als zu Wasser und zu Schwefeldioxid zu verbrennen. Das ist gesund und gibt dir Kraft. Und riechen tut es dann auch nicht mehr.«
    Ich staunte über Nilowskys Chemiekenntnisse, obwohl mir der Zusammenhang nicht logisch vorkam. »Aber die Körperwärme«, wandte ich ein, »ist die denn so groß?«
    »Die ist, wenn du willst, dass sie so groß ist, wenn du das unbedingt, wenn du das hundertprozentig willst, ist sie auch so groß. Das ist sie. Verstehst du, wie ich das meine?«
    Ein Lächeln zog über sein Gesicht, und ich sagte, um seine Freude nicht zu stören: »Ja, ich verstehe.«
    Ich schloss ebenfalls die Augen, hielt das Gesicht nach oben und atmete die stinkende Luft so tief ein, dass ich heftig husten musste und mich fast übergeben hätte. Nilowsky klopfte mir auf den Rücken und meinte: »Deine Körperwärme, die ist noch nicht groß genug. Aber das macht nichts, du hast es, wenigstens hast du es versucht.«
    Ich öffnete die Augen und sah zu ihm hoch. Er lächelte mich an und sagte: »Komm! Wir gehen ein Stück.«
    Ich folgte ihm an den Gleisen entlang, und er erklärte mir, dass man Schwefelwasserstoff aus Eisensulfid und Salzsäure herstellt und Eisensulfid nichts anderes sei als ein Gemisch aus Eisenpulver und Schwefelpulver, das erhitzt werden muss, um zu Eisensulfid zu werden. Ich dachte, hoffentlich ist bei dem, was ich eingeatmet habe, nicht noch ein bisschen Salzsäure dabei gewesen. Unwillkürlich begann ich wieder zu husten und spuckte auf die Gleise, um die Salzsäure loszuwerden, während Nilowsky weiter erklärte, dass dieser Schwefelwasserstoff zwar ziemlich giftig sei, aber gleichzeitig gut für die Blutdruckregelung.
    »Wie geht denn das?«, fragte ich, »Gift für die Blutdruckregelung? Und was hat man denn von geregeltem Blutdruck, wenn man tot ist?«
    »Das geht eben«, sagte er, »das ist, Chemie ist das eben. Außerdem: Warum soll man bei Gift, warum soll man da gleich tot sein? Jedenfalls du, du lebst doch auch noch. Und ich ebenfalls. Ich sowieso. Und so soll’s bleiben. Will ja noch heiraten, will ich. Und Kinder kriegen.Also zeugen, Kinder zeugen, damit du mich nicht falsch verstehst.« Er hielt inne, und plötzlich sagte er: »Pass auf, jetzt gleich, gleich kommt der Vierachtzehner, jetzt kann wieder Geld gedruckt werden!«
    Er holte einen seiner vielen Groschen, die er immer bei sich trug, aus der Hosentasche und legte ihn auf die Schiene. Der Vierachtzehner kam, pünktlich auf die Minute, vier Uhr achtzehn, wie an jedem Nachmittag. Wir liefen ein Stück die Böschung hinunter, trotzdem riss uns der Zugwind fast die Haare vom Kopf. Ich presste meine Hände auf die Ohren, weil ich Angst hatte, taub zu werden. Nilowsky hingegen lachte laut, mit weit offenem Mund und steil nach oben ausgestreckten Armen. Kaum dass der Zug vorbei war, sprang er zu der Stelle, an der er den Groschen auf die Schiene gelegt hatte. Der Groschen war so platt, wie er nur platt sein konnte, und so rund und breit wie ein Markstück. Nilowsky sagte: »Jetzt ist er verwandelt, das ist er, und veredelt ist er, und Spuren von ihm, die bleiben, für immer bleiben die an den Rädern des Zuges, kleben bleiben die und fahren durch Deutschland, durch Frankreich fahren die, durch Spanien. Mein Groschen, die Spuren von meinem Groschen, bis nach Spanien und noch weiter.«
    »Aber die Zugstrecke«, wandte ich ein, »führt doch von Nord nach Süd, nach Südost genauer gesagt, nicht nach West. So kann man’s auf dem Stadtplan sehen.«
    »Denkst du etwa«, entgegnete Nilowsky, »man kann den Stadtplänen glauben? Das müsstest du doch eigentlich längst wissen mit deinen vierzehn Jahren, oder hast du noch nie was davon gehört, dass wir in einem Land leben, in dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher