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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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    Vater war seit zwei Monaten und etlichen Tagen tot, auf seinem glänzend weißen Grabstein balgten sich die ersten Tauben und die Welt hatte sich weitergedreht. Die Amerikaner waren vorgedrungen bis nach Bagdad, der Ölpreis stieg in schwindelnde Höhen und über unserer Stadt hörte es in diesem Frühjahr nicht mehr auf zu regnen.
    Ein Atlantiktief nach dem anderen zog über den Rand des Kontinents herein, kreiste um seine eigene Achse und kam nicht von der Stelle. Die jungen Mädchen vom Wetterbericht lächelten und versprachen allabendlich Besserung, aber es blieb bei den Versprechungen. Überall stiegen die Pegel, das Militär legte Sandsäcke aus, und doch traten die Bäche und Flüsse, die von den Bergen herunterschossen, über ihre Ufer.
    Auch in unserem Viertel standen die Gehwege und Straßen seit Tagen unter Wasser und die Autos, die mit gedrosselter Geschwindigkeit um die Kurve kamen, zogen eine Spur weiß schäumender Gischt hinter sich her. Ich sah ihnen zu, in meinen nachmittäglichen Pausen auf dem Balkon oder abends, wenn ich die Jalousien schloss, und ich fragte mich, wie hoch das Wasser noch steigen müsse, bis es in die Motoren drang und den Antrieb blockierte. Eines Tages, während eines Fernsehberichts über die globale Erwärmung, war mir die irrige Vorstellung gekommen, dass sich auch Fahrzeuge an eine veränderte Umgebung anpassen konnten. Wer weiß, fiel mir ein, vielleicht sind all die Autos in unserer Stadt schon dabei, sich zu verwandeln, in Motorboote, in Kutter oder kleine Yachten, und ich brachte diesen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf.
    Vielleicht war die Verwandlung auch längst so weit fortgeschritten, dass es keine Rückkehr mehr gab. Wer davon wusste, schwieg, öffnete höchstens mit wissendem Lächeln die Motorhaube, schon hörte man das leise Surren der Schiffsschraube. Und wer sich bückte, konnte die sanft geformten Flügel bestaunen, die sich behände im Unterboden drehten. Nur noch kurze Zeit, dann würden die Passagiere nicht mehr von Busfahrern oder Taxilenkern zum Flughafen gebracht, sondern von Bootsmännern in ihren Kapitänsuniformen. Und von weitem konnte man dem Arbeitstrupp in ihren Blaumännern zusehen, der an der Glasfront des Flughafens dabei war, die riesigen Leuchtbuchstaben des Wortes Flug abzubauen. Das Kielwasser der Boote und Fähren schob stetige Wellen gegen die durchnässten Mauern der Häuser und auf den eilig erbauten Anlegestellen warteten die Hausfrauen und Angestellten, um rechtzeitig ins Büro oder ins Kaufhaus zu kommen.
    Wenn ich nachts aus unruhigen Träumen erwachte und nicht mehr einschlafen konnte, überschlug ich im Kopf die Wasserverdrängung der großen Lastschiffe und stellte mir vor, wie die Feuchtigkeit in die Fugen der Ziegel eindrang und den Mörtel aufquellen ließ. Lang konnte es nicht mehr dauern, dann würden die Stützmauern zu bröckeln beginnen, die Fundamente der Stadt. Manchmal, wenn ich in diesen Stunden das Rauschen und Gluckern eines späten Taxis vernahm, versuchte ich mich an den Namen des Flusses zu erinnern, über den die Toten der Antike in die Unterwelt gebracht wurden, aber er wollte mir nicht einfallen.
    Als es eines Morgens schien, als würde es doch noch eine Wendung zum Besseren geben, rief Gregor, mein Bruder, an und behauptete, dass Vater vor seiner Haustür stehe. Ich hatte gerade gefrühstückt und war auf den Balkon hinausgetreten, um die Wolkendecke zu begutachten, die an einer Stelle über den Kaminen des Nachbarhauses beinahe durchgerissen war. Der seit Wochen gießende Regen war in dünnes Nieseln zerronnen und aus dem glatten Nebelgrau brach azurfarbenes Blau durch, ein gutes Zeichen, wie ich dachte. Da vernahm ich das Klingeln des Telefons aus der Diele. Ich war überrascht, Gregors Stimme zu hören, er hatte mich monatelang nicht mehr angerufen. Aber Gregor hörte mir gar nicht zu, noch in meine ersten Worte der Verwunderung hinein sagte er, dass Vater vor seiner Haustür stehe, unser toter Vater, dass Vater an seiner Haustür klingle, dass er auf einmal wieder da sei, so, als hätten wir ihn nie begraben.
    „Er klingelt wie verrückt!“, schrie Gregor ins Telefon.
    „Verrückt“, wiederholte ich sein letztes Wort, ohne zu begreifen, was er meinte.
    „Unser Vater“, schrie Gregor.
    „Vater“, sagte ich.
    „Er steht da draußen“, schnaubte Gregor. „Er nimmt seinen Finger nicht mehr von der Klingel – hörst du es“, und dann war nur mehr ein leises Rauschen zu vernehmen.
    Ich nahm an,
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