Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
dass mein Bruder den Hörer von seinem Ohr weg in den Flur hielt.
    „Hast du etwas genommen?“, fragte ich, als ich Gregor wieder atmen hörte.
    Alma, die hinten im Wohnzimmer saß, blickte von ihrem morgendlichen Grüntee auf und ich machte ihr ein Zeichen, dass ihr Onkel nun völlig übergeschnappt sei. Sie breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben, als wollte sie sagen, dass das irgendwann zu erwarten gewesen wäre.
    „Null“, schrie Gregor ins Telefon, „so glaub mir doch.“
    Alma war aufgestanden und hatte die Lautsprecherfunktion des Telefonapparates aktiviert, Gregors alarmierter Tonfall füllte unser Wohnzimmer.
    „Ganz langsam, Bruderherz“, sagte ich, „reg dich nicht auf. Erzähl einfach der Reihe nach. Es hat geklingelt, du bist zur Tür und dann?“
    „Nein“, brüllte Gregor, „er hat geklingelt. Er, er, er. Und er steht immer noch draußen herum. Er wartet nur darauf, dass ich endlich aufmache. Aber das werde ich auf keinen Fall tun.“
    „Wer ist der Mann?“, sagte ich. Ich versuchte, langsam und deutlich zu sprechen. „Gregor, schau dir sein Gesicht genau an.“
    „So glaub mir doch“, schrie Gregor, „er ist es. Es ist Papa. Dein verdammter Vater und meiner.“ Seine Stimme war kurz davor, sich zu überschlagen, und dann wurden wir unterbrochen.
    Gregor war zwei Jahre älter als ich und galt bei meinen Eltern als der Ruhige und Abgeklärte von uns beiden. Er war Vaters Nachfolger in der Partei geworden, war Jahr für Jahr aufgestiegen und seit den letzten Wahlen galt er als unabkömmlich in der Stadtverwaltung. Wir sahen uns zwei- oder dreimal im Jahr, zu Weihnachten und Ostern meist, wenn wir unsere Eltern besuchten. Was Gregor sagte, hatte für unsere Mutter Gewicht, und auch sonst besaß er die Begabung, andere mit seiner Umtriebigkeit und Redegewandtheit in seinen Bann zu ziehen. Nicht umsonst hatte er sein Zahntechnikerstudio aufgegeben und war Politiker geworden. Wenn aber etwas seinen Vorstellungen und Wünschen zuwiderlief, wandte er sich ab und tat einfach so, als gäbe es kein Problem. Meistens folgten ihm alle auf seinem eingeschlagenen Weg, seine Parteikollegen, seine Freunde. Und auch mir als jüngerem Bruder war das Phänomen nicht unbekannt.
    Auch als Vaters Krebs diagnostiziert wurde, sah Gregor weg, er wollte es einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Er ließ sich wochenlang nicht blicken und stellte jeder Begegnung mit der Krankheit und allen, die damit zu tun hatten, aus. Er wohnte viel näher bei unseren Eltern als ich, vielleicht eine Dreiviertelstunde mit dem Auto, aber wenn es galt, mit einem Arzt zu sprechen oder Vater zu den Bestrahlungen ins Krankenhaus zu bringen, war er nicht erreichbar. Angelina, seine zweite Frau, erklärte Mutter am Telefon, dass Gregor auf einer Landwirtschaftsmesse die Eröffnungsrede halte, in Verona oder in München, und dass er frühestens in zwei Tagen wiederkomme. Oder er war in einer dringenden Sitzung des Parteiausschusses und unmöglich zu sprechen. Manchmal kam auch Angelina und sagte, Gregor schickt mich.
    Zumeist aber brachte ich Vater ins Bezirkskrankenhaus. Damit wir rechtzeitig dort waren, packte ich am Vorabend meine Sachen, fuhr über den Pass und das letzte Stück über die neue Autobahn und übernachtete im Elternhaus. Um sechs Uhr früh klopfte Mama an die Tür meines ehemaligen Kinderzimmers und Vater saß mit der blauen Reisetasche auf seinen Knien bereits in der Küche und sah auf die Uhr.
    „Er lässt sich nicht blicken“, sagte er während der Fahrt, „vielleicht hat er Angst, dass ich ihn anstecke.“
    „Er ist dein Sohn“, sagte ich.
    „Von mir hat er das nicht“, sagte Vater und schaute auf die neuen Häuser, die man am Rande der Kleinstadt hochzog. Auf jeder unserer Fahrten waren weitere dazugekommen, elegante Reihenhäuser oder kleine Luxusvillen in sanften Pastelltönen, die sich an den Hang schmiegten bis hinauf zum Waldrand. Vor einigen Jahren hatte man es aufgegeben, große Wohnblocks mit billigen Wohnungen zu bauen, weil man die Erfahrung gemacht hatte, dass man dadurch zu wenig Kaufkraft für die Stadt anzog. Alles nur Gesindel, sagte Vater, hat kein Sach und kein Geld, und er nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass man seine Überlegungen ernst genommen hatte. Obwohl er bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr für den Stadtrat kandidierte, war er überzeugt, dass es seine ganz persönlichen baupolitischen Vorschläge waren, die jetzt in die Tat umgesetzt wurden.
    Als das Brachland
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher