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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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verschlechternden Geisteszustand aufmerksam gemacht.
    Eine beginnende Demenz, meinte Angelinas Hausarzt, als sie ihm davon erzählte, aber Gregor wehrte sich gegen den Gedanken, dass unsere Mutter ein klinischer Fall sei, wie er es nannte, und behauptete, dass Mama immer schon ein wenig vergesslich gewesen war. Auf jeden Fall hatten wir nichts unternommen, nicht zuletzt weil jeder von uns Angst hatte, mit einer neuerlichen Diagnose konfrontiert zu sein, welche alles durcheinanderbringen würde.
    Und jetzt war dieser Elektriker aufgetaucht, und Mama war in ihrer Klarheit darüber, dass sie von ihm um das Wertvollste, das ihr Vater hinterlassen hatte, bestohlen worden war, vollkommen abgehoben. Sie blinzelte in die untergehende Sonne und ihr Wortfluss nahm kein Ende. Empört stellte sie fest, dass es an ein Wunder grenze, dass das Silbertablett, mit dem Angelina den Kaffee auf die Terrasse gebracht hatte, noch vorhanden sei. Wir ließen sie zetern und versuchten das Gespräch auf das Wetter zu lenken, aber Mama wollte nichts hören von günstigen Prognosen, sondern schimpfte, dass auch auf die Polizei heute kein Verlass mehr sei und es bestimmt nichts nütze, den Kofferdiebstahl anzuzeigen. Im selben Augenblick ermahnte sie mich, die Thujen (die in Wirklichkeit Rosen waren) auf Vaters Grab zurückzuschneiden, schließlich sei jetzt die Jahreszeit dafür. Zwischendurch nannte sie Angelina hartnäckig Evelyn und wir nahmen es auf uns, sie in diesem Zustand allein in ihrem Haus zurückzulassen.
    Im Auto öffnete Angelina ihre Handtasche und zog einen schmalen, eleganten Flachmann heraus. Er war aus Edelstahl und nachdem sie einen Schluck gemacht hatte, reichte sie ihn mir wortlos herüber.
    „Übermorgen bringe ich sie zum Hausarzt“, sagte sie, „so geht es nicht mehr weiter.“
    Sie nahm mir ihr Fläschchen aus der Hand, noch bevor ich einen Schluck hatte trinken können. Ich legte den Rückwärtsgang ein und im Umdrehen nahm ich wahr, dass unsere Mutter bereits alle Lichter im Haus gelöscht hatte. Auch die Lampe über dem Eingang, durch den wir gerade erst gegangen waren, brannte nicht mehr. Langsam ließ ich den Wagen auf die Kreuzung mit der Hauptstraße zurollen und fragte Angelina, ob sie den Begriff Folie à deux kenne.
    „Nehmen wir mal an“, sagte Angelina, und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie nicht auf meine Frage antwortete, „nehmen wir mal an, so etwas gibt es.“
    „Du spinnst“, sagte ich. „Du halluzinierst, genauso wie die beiden.“
    „Nur mal angenommen, dass Gregor noch nicht ganz weggetreten ist“, insistierte sie. Sie setzte den Flachmann an den Mund und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über die feucht glänzenden Lippen.
    „Nur mal die Vorstellung zulassen, dass …“, wiederholte sie, aber dann stockte sie und schwieg. Ihr Gedanke war irgendwo auf seinem Weg hängengeblieben und konnte sich nicht mehr losreißen.
    Wir fuhren durch das abendliche Zentrum, die Rushhour war längst vorüber, die Straßen fast menschenleer, und auch mir waren die Worte ausgegangen. In meinem Kopf tat sich neben der Gewissheit, dass Tote tot sind und nicht mehr – wie sagte man – auferstehen würden, allmählich ein leeres Areal auf, ein weites Feld, von dem ich dachte, dass darin Angelinas Annahme Platz finden konnte. Aber es wollte sich nicht füllen, weder mit einer Ahnung noch mit einem Zweifel, und ich blickte über meine Schulter zu Angelina.
    Sie hatte die Rückenlehne in Liegeposition gestellt, setzte ab und zu ihr Fläschchen an die Lippen und lächelte vor sich hin. Ein seltsamer Frieden lag in den Straßen, vielleicht weil es den ganzen Tag nicht geregnet hatte. Am Horizont glimmte ein mattes Abendrot, und bald waren wir in den Hügeln, die die Stadt nach Norden begrenzten.
    Es war nicht mehr weit zu Gregors Haus, Angelina hatte die Augen geschlossen, der Flachmann war ausgetrunken und als ich an der Kreuzung hielt, rollte er von ihrem Schoß in den Fußraum des Beifahrersitzes.
    „Fahr weiter“, murmelte Angelina vor sich hin, „fahr weiter, mein Fährmann.“
    Im Hausflur ließ sie sich auf das Sofa hinter dem Eingang fallen, während ich nach Gregor schaute. In der Küche stand das schmutzige Geschirr auf dem Tisch und Gregor war im Wohnzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen. Er lag auf der Couch, auf seinem Bauch eine zerknüllte Decke und die losen Blätter mehrerer Tageszeitungen. Es sah so aus, als hätte er sich doch langsam beruhigt. Ich
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