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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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Er hörte uns kaum zu, beklagte sich über das Mittagessen, das immer kalt werde, bis es an sein Bett komme, und fragte nicht nach. Er glaubte unsere Lügen und wir waren froh, dass wir so geschickte Lügner waren und er uns nicht durchschaute. Ich war überzeugt, dass wir aus psychoonkologischer Sicht, wie die Ärzte es nannten, das Richtige taten.
    Die Einzige, die bei diesem Spiel nicht mitmachen wollte, war Alma. Sie bockte vor den Ärzten und wandte sich demonstrativ vom Schreibtisch ab, vor dem wir saßen, und nachher, auf dem Weg zu den Krankenzimmern, zischte sie mir zu, dass sie Vater die Wahrheit sagen werde, die ganze Wahrheit, wenn wir es nicht täten. Er habe schließlich ein Recht darauf zu wissen, wie es um ihn stehe. Ein Menschenrecht, sagte Alma zwischen zusammengepressten Zähnen.
    Ich hatte keine Lust, mich mit ihr zu streiten, und schickte sie ins Café des Krankenhauses, sie solle doch eine Cola trinken und eine Tageszeitung für ihren Großvater besorgen. Sie hielt kurz inne, als wollte sie gleich wieder protestieren, aber dann machte sie wortlos kehrt und ging zu den Aufzügen. Als sie zurückkam, schien sie ihren Widerstand aufgegeben zu haben, sie hielt Vaters Hand, bis wir uns verabschiedeten, und mischte sich nicht in unser Gespräch. Ich wusste aber, dass ihr diese Sache keine Ruhe ließ, und war darauf gefasst, dass sie eines Tages wieder damit anfangen würde.
    Mama erfuhr nichts von unserer Besorgnis darüber, dass die Krankheit vielleicht nicht mehr aufzuhalten war. Angelina rief sie nach unseren Besuchen von ihrem Mobiltelefon aus an und berichtete ihr ausführlich, dass der Primar in Aussicht gestellt habe, um eine Operation herumzukommen. Dass bei diesem Eingriff, wenn er denn erfolgte, Vaters Schädel aufgesägt werden musste, und, wie man uns erklärt hatte, der Tumor nur teilweise entfernt werden konnte, da er äußerst ungünstig lag, davon sagte sie Mama nichts. Diese gab sich schnell mit unseren optimistischen Einschätzungen zufrieden, und vor allem die Tatsache, dass der Primar ein Parteifreund Gregors war, stimmte sie zuversichtlich.
    Manchmal sprachen wir uns ab, Angelina und ich, wenn wir Vater während seines Bestrahlungszyklus’ besuchten, und trafen uns vorher im Park des Krankenhauses.
    Wir gingen zwischen den immergrünen Sträuchern auf und ab, stellten den Rollstühlen aus und machten uns gegenseitig Mut. Angelina war überzeugt, dass eine Tumorerkrankung in diesem Alter so langsam fortschritt, dass Vater bestimmt an etwas anderem sterben würde. Sie betonte, dass sie das nicht in irgendeiner Frauenzeitschrift gelesen habe, sondern dass das allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisse wären. Auch ihr Hausarzt, den sie danach gefragt hatte, hätte ihr das bestätigt. Ich widersprach ihr nicht, auch wenn die Aussicht, dass Vater an etwas anderem als dem Krebs sterben könnte, kein rechter Trost war.
    „Ist dir aufgefallen“, sagte Angelina, „dass er wieder mehr Appetit hat?“
    „Und schließlich gehen die Bestrahlungen weiter“, fügte ich hinzu. „Wenn es wirklich aussichtslos wäre, setzt man doch niemanden mehr diesen Belastungen aus. Außerdem ist die Medizin heute ja nicht mehr auf dem Stand wie vor zwanzig Jahren.“
    Meine Schwägerin nickte, lächelte mich einen Augenblick lang an und gab mir in allem recht. Wir spazierten über die gepflegten Kieswege des Parks und logen uns beide etwas vor, damit wir den Mut fanden, auf die Station zu gehen und Vater in seinem Krankenbett zu sagen, dass es aufwärts gehe.
    „Du bist die geborene Lügnerin“, sagte ich ihr, als wir das Krankenhaus verließen. „Man sieht es dir kein bisschen an, du wirst nicht einmal rot. Ich frage mich, woher du das hast.“
    „Ich bin schließlich lang genug in eurer Familie“, entgegnete Angelina kokett.
    „Machst du es mit Gregor genauso?“, fragte ich.
    „Wo denkst du hin“, sagte sie, „für ihn bin ich das naive Frauchen.“
    „Das kein Wässerchen trüben kann“, ergänzte ich.
    Es war ein Spiel und Angelina hatte sich auf ihre Art darauf eingelassen. Ich hätte gerne gewusst, wie sie miteinander umgingen, wenn sie unbeobachtet waren. Ich hätte gerne gewusst, wie sie Gregor aushielt. Er war mein Bruder und ich hatte meine Erfahrungen mit ihm gemacht; ich wusste, wann man die Reißleine ziehen musste, um nicht von ihm überfahren zu werden. Arbeitskollegen von mir hatten manchmal anzügliche Bemerkungen gemacht, bis ich ihnen ins Gesicht gesagt hatte, dass Gregor
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