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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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zwar genetisch mein Bruder war, ich aber weder mit seiner Politik noch mit seinem angeblichen Frauenverschleiß etwas zu tun hatte.
    Ich hatte daraufhin nie mehr etwas gehört, aber Angelina begann mir leidzutun. Flüsterte man ihr dieselben Sachen zu wie mir?
    Wir gingen über die Treppen auf den Vorplatz des Krankenhauskomplexes und Angelina lachte leise in sich hinein.
    „Gregor und du“, sagte ich.
    Sie überlegte einen Augenblick.
    „Lassen wir das“, sagte sie dann, „lassen wir das“, und begann plötzlich zu lachen, als hätte sie einen guten Witz gemacht, und konnte nicht mehr aufhören. In der Tiefgarage fuhr sie, kichernd über den Lenker gebeugt, an mir vorbei, während ich noch meine Autoschlüssel suchte.
    Im Grunde war es furchtbar leicht, unseren Vater zu belügen. Oft hatte ich den Eindruck, dass er uns gar nicht zuhörte, sondern mit sich selbst und seiner Gedankenwelt beschäftigt war. Dazu kam, dass er von Mal zu Mal schwächer wurde, die Krankheit wirkte sich zunehmend auf seinen Allgemeinzustand aus. Er unternahm keinen Anlauf mehr, die Wahrheit zu erfahren, fragte kein einziges Mal mehr nach, ob er sterben müsse oder was die Ärzte gesagt hätten.
    Eines Tages, als ich gerade über den Hausarbeiten meiner Schüler saß, kam mir der Verdacht, dass er über seine Krankheit Bescheid wusste, aber es aufgegeben hatte, dieses Wissen mit uns zu teilen. Vielleicht weil er sich von uns nichts erwartete, weil er uns als Gesprächspartner nicht ernst nehmen konnte, vielleicht weil er uns die Wahrheit nicht zumuten wollte. Beim Abendessen erzählte ich Alma von meinen Überlegungen, und sie antwortete mir, dass das doch vollkommen logisch sei. Schließlich wisse jeder instinktiv, wie es um ihn stehe, selbst Tiere täten das.
    „Und was stellst du dir vor, sollen wir jetzt tun?“, fragte ich.
    „Keine Ahnung“, sagte Alma.
    Am Sonntag nahm sie ein Fotoalbum aus dem Haus meiner Eltern mit, welches Mama in der Wohnzimmerkredenz aufbewahrte. Es war eines dieser alten, abgegriffenen Alben mit den eingeklebten Ecken und dem transparenten Spinnenpapier zwischen den kartonierten Seiten. Die Fotos hatten gezackte Rahmen und einen Gelbstich und zeigten die ersten Aufnahmen unserer Eltern. Im Auto blätterte sie das Album neben mir durch, einige der Bilder erkannte ich wieder, Mama mit ihren Freundinnen beim Nähkurs oder Vater als ernster Jüngling beim Skifahren; Jugendbilder aus einer Zeit, in der sich die beiden noch nicht gekannt hatten. Mama hatte, wie sie uns erzählte, die Fotos auf eine Art und Weise zusammengestellt, als wären die beiden immer schon verbunden gewesen – Vaters Bilder links und die ihren rechts –, und hatte es ihrem Gatten zu einem der ersten Hochzeitstage überreicht. Oder vielleicht war es auch ein Geburtstag gewesen, so genau wusste sie es nicht mehr.
    Im Krankenzimmer legte Alma Vater den Band auf die Bettdecke und blätterte die ersten Seiten um.
    „Das bin ich nicht“, sagte Vater entschieden und zeigte auf ein Bild, das einen jungen Mann in einer Uniform zeigte. Er trug unverkennbar Vaters Züge, außerdem hatte Mutter in ihrer säuberlichen Handschrift die Abbildung kommentiert und dazugeschrieben: Mit achtzehn bei der Wehrmacht.
    „Aber das warst du“, widersprach ihm Alma sanft. „Stell dir vor“, sagte sie und strich ihrem Großvater über die Wange, „in fünf Jahren bin ich so alt, wie du damals warst.“
    „Ach, mein Mädchen“, sagte Vater, „zu meiner Zeit ist man erst mit einundzwanzig volljährig geworden.“
    Ich hatte mich auf den Stuhl am Fenster gesetzt und beobachtete die beiden. Alma hatte sich an Vaters Seite Platz gemacht und gemeinsam betrachteten sie die Fotografien. Sie blätterten vor und zurück und schienen die einzelnen Bilder miteinander zu vergleichen. Zwischendurch beugte sich Alma zu Vater hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr und dann lachten sie.
    Wie schmal und durchscheinend mein Vater geworden war, beinahe gläsern! Sein rasierter Schädel verschwand fast in den Wülsten des Kissens, der Ärmelansatz seines Schlafanzugs war bis in die Ellbogen gefallen und auf seiner Brust, wo das Unterhemd durch das Liegen verrutscht war, sah man die Rippenbögen durch die Haut schimmern. Ich wollte Alma schon zu verstehen geben, sie solle etwas vorsichtiger sein und sich nicht mit ihrem ganzen Körper über Vater lehnen, aber dann sah ich, wie seine Augen aufblitzten, wenn die beiden zusammen lachten, und blieb still.
    Jetzt war auch
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