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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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Gregor seine fixe Idee auszureden. Jetzt stand sie auf und trat näher.
    „Er rächt sich“, murmelte Gregor vor sich hin.
    „Gregor!“, sagte Angelina.
    „Er ist wiedergekommen und rächt sich“, sagte Gregor.
    „Gregor“, wiederholte Angelina.
    „Und jetzt fährt er zu Mama“, sagte Gregor.
    „Genau“, spottete Angelina und drehte sich weg, zum Fenster hin. „Vielleicht fliegt er auch. So wie die Engel.“
    Unsere Mutter stand am offenen Wohnzimmerfenster. Es sah aus, als würde sie nach uns Ausschau halten. Angelina, die (trotz allem) mitgekommen war und sich im Notfall um meine Mutter kümmern wollte, erblickte sie bereits, als wir in die Seitenstraße einbogen, die zu unserem Elternhaus führte. Gregor hatte uns gestanden, dass er in seiner Verzweiflung auch Mutter angerufen hätte, deshalb war ich auf alles gefasst. Als wir um die Ecke bogen, sah ich ihre große hagere Gestalt schon im wieder einsetzenden Regen durch den Vorgarten laufen, mit beiden Händen zog sie das schmiedeeiserne Tor zurück.
    „Habt ihr denn Gregor nicht mitgebracht“, sagte sie, noch bevor wir unseren Besuch erklären konnten, und während wir durch den Garten gingen, berichtete sie uns, was ihr Gregor am Telefon erzählt hatte. Sie erzählte es so, als wüssten wir nichts von Gregors Hirngespinsten, und sie schien keineswegs überrascht von dem, was ihr Gregor erzählt hatte. Das seien doch alte Geschichten, die jeder kenne, Ammenmärchen, sagte sie und wollte kein Wort mehr darüber verlieren. Nur um das Wohlergehen ihres ältesten Sohnes schien sie ernstlich besorgt.
    „Ihr hättet ihn mitnehmen müssen“, sagte sie, „hier ist doch sein Zuhause.“
    Das Haus, unser Elternhaus, hatten sie gekauft, als Mama mit Gregor schwanger war und sie und Vater Hals über Kopf heiraten mussten. Die unerwartete Schwangerschaft hatte die umständliche Wahl des rechten Wohnortes beschleunigt. Nun konnte es keine Rolle mehr spielen, dass der Garten für die Ansprüche meiner Mutter zu klein war und das Wohnzimmer zu wenig Abendsonne hatte. Dennoch hatte sie nie aufgehört, sich darüber zu beschweren.
    Das Haus lag am Rand der Stadt und von seiner Terrasse aus sah man auf die Felder und Apfelplantagen, die sich bis zum gegenüberliegenden Hang ausbreiteten. Gregor und ich waren hinter diesen Fenstern aufgewachsen und unser gemeinsames Kinderzimmer war beinahe so geblieben, wie wir es verlassen hatten. Mit dem braunen Teppichboden und den rot lackierten Betten, in denen wir über Nacht zu Jugendlichen geworden waren, die plötzlich merkten, dass die Welt jenseits des Gartentores nicht zu Ende war, sondern in Wirklichkeit erst richtig begann.
    Mama ging voraus in die Diele, wo sie plötzlich stehen blieb und sich mit der flachen Hand auf die Stirn schlug.
    „Jetzt verstehe ich erst!“, rief sie aus und auf Angelinas besorgtes Nachfragen, was sie denn nun verstehe, erklärte sie uns, dass ihr jetzt klar sei, warum Vaters Koffer plötzlich fehle, sein Flugkoffer aus rotem Hartplastik.
    Sie sei durch das Klingeln aus dem Nachmittagsschlaf gerissen worden, erzählte Mutter aufgeregt und fuchtelte mit den Händen.
    „Er erklärte, er sei der Elektriker von den Stadtwerken“, sagte Mama, „ihr wisst ja, das ganze Viertel muss neue Sicherungskästen montieren, diese elektronischen Dinger.“
    Wir wussten das nicht.
    „Er wollte nicht einmal einen Kaffee“, sagte Mama, „so eilig hatte er es.“
    „Die Männer von den Stadtwerken haben es immer eilig“, bestätigte ich.
    Mama schüttelte den Kopf, verzweifelt über so viel Uneinsichtigkeit. Ihr Kiefer arbeitete stumm.
    „Verstehst du nicht“, sagte sie dann, „er hat ja nur einen Auftrag ausgeführt.“
    Angelina und ich sahen uns an. Vielleicht stellte auch sie sich gerade vor, die Stadtwerke seien eine raffinierte Tarnorganisation, deren eigentliches Ziel es ist, die Wohnungen der nichtsahnenden Bürger auszuräumen.
    „Und was nun?“, fragte Angelina vorsichtig, während sie Mama unterhakte und mit in die Küche zog.
    „Überzeugt euch doch selbst, wenn ihr mir schon nicht glauben wollt“, sagte sie, entzog sich Angelinas Fürsorglichkeit, lief zurück in die Diele und starrte nach oben, wo in der obersten Stellage des Eichenregals mehrere Taschen und Koffer aufgereiht waren. Das Regal nahm die gesamte Länge der Diele ein und es war noch reichlich Platz darauf. Mama zeigte auf eine dunkle Lücke zwischen einer blauen Reisetasche und einem aus Peddigrohr geflochtenen
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