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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman
Autoren: Haymon
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begann und wir auf die Autobahn auffuhren, wollte Vater plötzlich wissen, was die Ärzte gesagt hätten.
    „Du warst doch selbst dabei“, sagte ich.
    Er richtete sich in seinem Sitz auf und holte Luft, als wollte er losschimpfen, aber dann bemerkte ich, dass er plötzlich innehielt. Er ließ seinen Oberkörper nach vorn sacken, schnaufte und blickte starr vor sich hin. Vielleicht hatte er tatsächlich vergessen, dass er bei der ersten Besprechung im Krankenhaus gemeinsam mit uns den Ärzten gegenübergesessen hatte, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass man ihn über die Ergebnisse der Bestrahlung im Unklaren ließ. Schließlich hatte der Primar der Abteilung, als er uns die befürchtete Diagnose mitteilte, auf mich den Eindruck gemacht, als würde er weder den Patienten noch den Angehörigen etwas verschweigen wollen. Er hatte das Wort Tumor in den Mund genommen wie etwas Alltägliches, das es für ihn bestimmt auch war, nur für uns nicht, die wir hier saßen: Mama, neben ihr Vater, dann Gregors Frau, die Vaters Hand tätschelte, und ich ganz außen, auf diesen roten Plastikstühlen – und als Vater darauf nicht reagierte, hatte er seine Hand genommen, ihn angeschaut und gesagt: „Wir haben bei Ihnen einen Krebs festgestellt, aber wir haben gute Chancen, ihn zu heilen.“
    „Na, dann los“, hatte Vater gesagt, und wir hatten alle gelacht. Auch Mama und Angelina, die statt Gregor mitgekommen war, hatten losgeprustet, und als Vater schließlich begriff, dass es seine Bemerkung war, über die wir lachten, wiederholte er seine Worte noch einmal.
    Und jetzt, als wir zum zweiten Bestrahlungstermin fuhren, schien Vater bereits alles vergessen zu haben. Vielleicht war es auch eine Folge der Medikamente oder der Strahlen, die sich durch seinen Schädel bohrten und mit den wuchernden erkrankten Zellen auch die Erinnerung auflösten.
    „Mir sagt man nichts“, wiederholte er stur, und als ich darauf nichts mehr entgegnete, drehte er seinen rasierten Schädel zu mir und sagte, lauter als vorher: „Bestimmt muss ich sterben.“
    Das hatte er noch nie gesagt, zumindest mir gegenüber nicht, und für einen Augenblick stand dieser Satz mit stummer Wucht da, wie hingehängt vor meinen Augen. Was sollte ich ihm antworten auf diese Behauptung, die wie eine hilflose Frage klang.
    „Hör zu, Vater“, sagte ich dann, „du hast alle Chancen der Welt.“
    Ich hatte diesen Satz schon einmal gehört, nur fiel mir nicht ein, in welchem Zusammenhang.
    „Wirklich?“, sagte Vater, und seine Stimme ging nach oben, als freute er sich über die plötzliche Erkenntnis. Ich nahm meinen Blick vom Rückspiegel und sah ihn an, seine Miene hatte sich mit einem Male aufgehellt, er nickte vor sich hin und wiederholte murmelnd meine Worte.
    „Alle Chancen der Welt“, sagte er, drehte seinen Kopf zu mir und freute sich wirklich.
    Am Eingang der Radiologie ließ ich ihn mit der Krankenschwester, die ihn mit seinem Namen begrüßt hatte, allein und sah ihm hinterher. Sein Anzug schlotterte um seinen Körper, der wieder ein Stück weniger geworden war. So trottete er durch den Gang auf sein Zimmer, neben der jungen Pflegerin, die seine Tasche trug.
    „Das ist Schwester Irina“, hatte er sie mir vorgestellt und ich wunderte mich, dass er ihren Namen behalten hatte. Schließlich war die letzte Bestrahlung vor drei Monaten gewesen.
    Am Ende des langen Ganges blieben beide stehen, die Krankenschwester öffnete die Durchgangstür zum Bereich, den Besucher nicht betreten durften, und ich wartete darauf, dass sich Vater noch einmal umdrehte. Ich hatte keine Ahnung, wie schnell es gehen würde.

2
    So hatte ich meinen Bruder kaum einmal erlebt. Gregor war vor Schrecken erstarrt und verschwand fast in der Ecke seiner schwarzen Ledercouch. Er hatte es tatsächlich nicht fertig gebracht, die Klinke herunterzudrücken und vor das Haus zu treten, um sich zu vergewissern, wer der Mann vor seiner Haustür wirklich sei. Er hatte nicht einmal versucht, den Alten über seine Gegensprechanlage zu fragen, was er denn wolle. Oder was dies alles zu bedeuten hätte.
    „Du bist doch sonst nicht so auf den Mund gefallen“, sagte ich zu Gregor, „warum hast du Vater nicht gesagt, dass er tot ist und gefälligst unter der Erde bleiben müsse.“
    Ich hoffte, dass ihn vielleicht mein Sarkasmus aus seiner Apathie reißen würde, aber Gregor starrte mich nur erschrocken an. Sein Gesicht bestand aus nicht viel mehr als seinen aufgerissenen starren Augen, und
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