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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz
Autoren: Virginia Doyle
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1 KONTUREN IM SCHNEE
    Gregor Wanner griff nach dem Messer und fragte sich, ob es nicht wirklich an der Zeit wäre, sich die Kehle durchzuschneiden. Er hatte die Klinge des Rasiermessers gewissenhaft abgezogen. Sie war jetzt so scharf, dass er den Schnitt gar nicht spüren würde. Er würde nur seine buschigen Augenbrauen überrascht in die Höhe ziehen und sich ein wenig nach vorn beugen. Er würde beobachten, wie das Blut den Rasierschaum rot verfärben und auf sein weißes Unterhemd tropfen würde. Er würde neugierig dabei zusehen, wie die Lebenskraft aus seinen Augen wich. Das Messer mit der blutverschmierten Klinge würde auf den Dielenboden fallen und er langsam in die Knie gehen und zu Boden sinken. Ein letztes Aufbäumen, die Arme nach hinten werfen, liegen bleiben und darauf warten, dass Frau Esslinger hereinkam und einen gehörigen Schreck bekam. Wanner grinste. Er rückte den Rasierspiegel ein wenig zur Seite und wandte das Gesicht dem Fenster zu, damit mehr Licht auf ihn fiel. Er hob das Kinn, setzte die Klinge an und begann langsam und gewissenhaft mit der Rasur.
    Als er gerade dabei war, seinen dichten Schnurrbart ein wenig zu stutzen und dabei zu seinem großen Erstaunen ein graues Haar entdeckte, polterte es gegen seine Tür. Er zuckte, die Klinge rutschte aus, glitt im falschen Winkel über die Wange und hinterließ einen feinen Schnitt. Der Schnitt füllte sich mit Blut, dann bildete sich ein Tropfen, dann noch einer.
    »Herrgott, Sakra! Frau Esslinger! Was ist denn los!«
    Wanner legte das Messer beiseite und griff nach dem Handtuch neben der Waschschüssel.
    Die Zimmertür ging auf, und eine kleine alte Frau mit Besen und Kehrblech in den Händen rief: »Nein! Tun sie das nicht!«
    Zu spät.
    »Mein Handtuch!«, rief Frau Esslinger. »Blut!«
    Wanner blickte erstaunt auf das Handtuch, das eben noch blütenweiß gewesen war und nun Flecken aufwies.
    »Zum Teufel, Frau Esslinger. Das ist Ihre eigene Schuld! Was rumoren Sie auch vor meiner Tür herum?«
    »Ich rumore nicht, ich fege! Außerdem …«
    Hinter Frau Esslinger tauchte ein großer dünner Mann auf. Er drängte sich an der kleinen Frau vorbei und blieb im Türrahmen stehen.
    »Herr Oberrat?«, sagte Wanner überrascht.
    »Sie haben Besuch«, sagte Frau Esslinger, drehte sich um und verschwand. »Herr Inspektor, Ihnen tropft Blut von der Wange.«
    Wanner legte das Handtuch auf die Wunde. Jetzt spürte er den Schmerz und kniff die Lippen zusammen.
    »Was … verschafft mir die Ehre, Herr Oberrat …?«
    »Ziehen Sie sich an, Herr Inspektor. Ich warte unten in der Kutsche auf Sie.« Oberrat Schreiber drehte sich um und verschwand.
    Und schon stand wieder die Esslinger in der Tür. Ihre Augen glänzten vor Neugier.
    »Ist wieder was passiert?«, fragte sie.
    Wanner zuckte mit den Schultern. Dann fiel ihm auf, dass er hier in Unterhosen, Unterhemd und Socken vor seiner Zimmerwirtin stand, noch dazu blutend. Schlagartig wurde er wütend.
    »Lassen Sie mich allein, Sie neugieriges Aas!«
    Er hob drohend den kleinen Blechnapf mit dem Rasierschaum. Frau Esslinger zog den Kopf ein, verschwand in Windeseile im Flur.
    Wanner schloss die Tür. Missmutig zog er sich an. Die halbe Nacht war er durch die engen Gassen von Nürnberg geschlichen, auf der Suche nach verdächtigen Subjekten, die angeblich planten, die neue elektrische Beleuchtung auf dem Hauptmarkt zu sabotieren. Spitzel hatten dieses Gerücht aufgebracht, dem nach Meinung von Inspektor Wanner jede vernünftige Grundlage fehlte. Aber Oberrat Schreiber wollte dem Patriziat der Staat unbedingt beweisen, dass er auch in der Adventszeit für Sicherheit und Ordnung sorgen konnte. Deshalb schickte er wegen jedem Gerücht seine »fähigsten Beamten« los. Und weil Schreiber den oberbayerischen Dickkopf Wanner nicht leiden konnte, musste der immer die nächtlichen Kontrollgänge unternehmen.
    Aber dass der Oberrat dann gleich am nächsten Morgen in Wanners Wohnung kam, um ihn abzuholen, war noch nie vorgekommen.
    Frau Esslinger war nirgends zu sehen, als Wanner über die steile Außentreppe in den engen, düsteren Hinterhof hinunterstieg. Es herrschte eine fürchterliche Unordnung: alte Fässer, kaputte Kisten und zerrissene Körbe lagen herum, ein demolierter Leiterwagen stand ihm im Weg, und neuerdings hatte sich sogar ein alter Kanonenofen zu dem Unrat gesellt. Wanner trat durch den niedrigen Torbogen in die schmale Gasse mit den schiefen Fachwerkhäusern.
    Oberrat Schreiber saß in einem
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