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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz
Autoren: Virginia Doyle
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übernommen. Es ging darum, den Mörder eines Kindes zu finden. Für die Schwächen eines Melancholikers war in dieser Geschichte kein Platz. Er musste standhaft bleiben.
    Wanner trat an den Glühweinstand. Geh gar nicht erst hin, sagte er sich gleichzeitig, lass dir lieber zu Hause einen Tee von deiner Zimmerwirtin aufbrühen.
    »Haben Sie auch Saft?«, fragte er die dicke Frau mit den roten Wangen, die mit einer Kelle in einem dampfenden Bottich herumrührte.
    »Glühwein hab ich«, sagte sie.
    »Einen Saft«, sagte Wanner.
    »Nein.«
    »Vielleicht einen Tee?«
    »Was? Einen Tee? Was wollen Sie mit einem Tee? Der Tee ist im Punsch.« Sie deutete auf einen zweiten Bottich.
    »Vielleicht können sie mir ja einen Tee extra kochen.«
    »Extra? Sie wollen was extra? Einen Tee? Wir sind doch kein Teehaus hier.« Die Frau stemmte empört die Hände in die Hüften.
    »War ja nur eine Frage«, sagte Wanner.
    »Hören Sie mal, ich hab Sie schon beobachtet«, sagte die Dicke. »Sie sind hier schon seit zwei Stunden auf dem Markt unterwegs.«
    Wanner sah sie erstaunt an. Zwei Stunden schon? Kein Wunder, dass ihm so kalt geworden war.
    »Sie laufen hier die ganze Zeit herum, gehen von Bude zu Bude und kaufen nichts. Ich hab’s genau beobachtet.«
    Wanner sog den würzigen Duft des Glühweins ein. Der Teufel hat den Alkohol erfunden, um den lieben Gott betrunken zu machen, dachte er sehnsüchtig.
    »Ich hab Sie beobachtet«, sagte die Frau. »Und wenn sie nicht so anständig aussehen würden, hätte ich längst die Polizei alarmiert. Ich hab sie auch die anderen Tage schon bemerkt. Das gibt’s doch nicht, dass ein Fremder hier so lange herumlungert und gar nichts kauft … und jetzt wollen Sie einen Tee!«
    »Ich suche einen kleinen Jungen«, sagte Wanner mehr zu sich selbst.
    »Jungen gibt’s viele«, sagte die Frau und rührte ungeduldig in ihrem Bottich herum.
    Wanner wandte sich von ihr ab und stand jetzt fast mit dem Rücken zu ihr. »Einen Zwölfjährigen in zerlumpten Kleidern.« Er beschrieb ihr den Jungen.
    »Ja, den suchen Sie mal«, sagte die Frau und hörte auf zu rühren.
    Als Wanner nichts weiter sagte, fügte sie hinzu: »Sind Sie ein Verwandter von diesem Bengel?«
    »Wieso?«
    Die Dicke stemmte beide Arme auf den Tresen und beugte sich nach vorn: »Weil ihm mal jemand die Leviten lesen sollte, deshalb.«
    Wanner drehte sich um: »Haben Sie ihn denn gesehen?«
    »Ja, leider«, sagte sie. »Dieser Bengel!«
    »Wo haben Sie den Jungen gesehen?«, fragte Wanner plötzlich hellwach.
    »Na wo, na wo, hier natürlich. Da drüben.« Sie deutete auf einen Bratwurststand. »Da hat er eine Wurst gestohlen. Und dort«, sie deutete auf einen anderen Stand, »ein Kistchen mit Lebkuchen.«
    »Lebkuchen?« Wanner spürte, wie ein Kribbeln durch seinen Körper lief. Er hatte eine Spur gefunden!
    »Ja, ja!«, ereiferte sich die Frau. Und dann fiel ihr etwas ein: »Aber Sie! Sie sind doch sicher ein Verwandter! Sie müssen bezahlen. Das geht so nicht! Lebkuchen sind teuer! Gehen Sie rüber. Sie müssen den Schaden wieder gutmachen, den ihr Bengel angerichtet hat. Und er muss bestraft werden.«
    »Bestraft ist er schon«, sagte Wanner.
    »Eine Tracht Prügel«, wiederholte die Frau. »Am besten gleich noch eine.«
    »Man kann ihn nicht mehr verprügeln«, sagte der Inspektor.
    »Ach was, natürlich kann man. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig, glauben Sie mir.«
    »Nein«, sagte Wanner. Er ließ die Frau stehen und ging.
    »He! Bezahlen müssen Sie!«, rief die Frau ihm nach, aber er achtete nicht darauf.
    Plötzlich flammten grelle Lichter auf. Die Bogenlampen waren eingeschaltet worden. Mit einem Mal war der ganze Christkindlesmarkt in ein überirdisches, helles Licht getaucht. Das dichte Schneetreiben dämpfte den grellen, elektrischen Schein und verwandelte den Platz in eine märchenhafte Szenerie.
    Wanner zog sich den Homburg ins Gesicht, aber die Schneeflocken flogen ihm dennoch in die Augen.
    Plötzlich stand ein uniformierter Polizist neben ihm. »Herr Inspektor …«
    »Ja?«
    »Der Herr Oberrat hat mich losgeschickt, um sie zu suchen.«
    »Ist etwas passiert?«
    »Ja. Weiter sagte er nichts. Nur dass Sie bitte mitkommen sollen.«
    »Gut, gehen wir.«
    Wanner folgte dem Beamten durch das Schneetreiben. Sie überquerten den Hauptmarkt. Als sie am Glühweinstand vorbeikamen, blickte ihn die Verkäuferin triumphierend an.

4 ARME DIEBE
    Jacques Pistoux schwitzte. Als erfahrener Koch war er einen harten Arbeitsalltag
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