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Das giftige Herz

Das giftige Herz

Titel: Das giftige Herz
Autoren: Virginia Doyle
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mit einer Lage Spekulatius-Männern. Er füllte den Teig in das mit Mehl ausgestäubte Spekulatiusmodel, rollte mit einem Nudelholz darüber, schnitt den überschüssigen Teig ab und klopfte das Plätzchen aus dem Model auf das Backblech. Dies war eigentlich eine Arbeit für einen Lehrling, aber den gab es hier ja nicht. Pistoux ging gewissenhaft zu Werke und achtete darauf, dass die Muster des Models auch wirklich deutlich auf den Teigstückchen zu sehen waren. Nach einer Weile kontemplativer Tätigkeit hatte er zahlreiche Bleche mit Männchen, Mägden, Pferden, Hirschen, Hühnern, Schweinen und Füchsen gefüllt, und der Teig ging zur Neige. Da hörte er ein Rumpeln in der Kammer.
    Er horchte auf. War etwas umgefallen? Noch einmal war das Rumpeln zu hören, dann ein Scheppern. Jetzt war Pistoux alarmiert. Wer oder was machte sich dort in der Vorratskammer zu schaffen? Sein erster Gedanke war: eine Ratte. Er ließ das Model mit dem Fuchs fallen und lief zur Kammer.
    Ohne zu zögern, öffnete er die Tür genau in dem Moment, als eins der Regale umstürzte. Bleche, Kisten, Schachtel, Dosen, Glasgefäße und Säcke mit Gewürzen und Nüssen kippten von den Regalböden herunter und landeten mit großem Getöse auf dem Boden. Eine Staubwolke aus Mehl und Gewürzen erhob sich und stieg ihm in die Nase.
    Unter dem Durcheinander aus durcheinander gefallenen Backutensilien und unter dem Regal, das zuletzt auf den Berg von teils zerborstenen Materialien gestürzt war, zuckte etwas. Pistoux fasste unwillkürlich nach einem Stock mit einer Metallspitze, der in der Ecke stand. Er hob die Waffe, bereit zuzustoßen, wenn ein Untier sich blicken lassen würde, eine Ratte, ein Hund, eine Katze.
    Säckchen und Dosen fielen beiseite, ein Arm erschien, dann ein Bein, ein Oberkörper und schließlich ein Gesicht. Es war ein Kind.
    »Wer bist du?«, fragte Pistoux.
    Der Junge starrte ihn schreckensbleich an.
    Pistoux wurde jetzt wütend. »Wer bist du?«, rief er laut und hob drohend den Stab. Der Junge blickte ängstlich auf die Spitze. Dann hob er abwehrend eine Hand.
    Pistoux wusste, dass er nie und nimmer mit diesem gefährlichen Gegenstand zustoßen würde. Er sah ganz deutlich, dass da vor ihm ein Kind lag. Ein Junge in Lumpen mit zerrissenen Schuhen.
    Der Junge bemerkte Pistoux’ Unsicherheit. Und mit einem Mal rappelte er sich auf, sprang auf die Füße, drehte sich um und rannte zur Hintertür, die auf den Hof führte. Die Tür war offen, und noch ehe Pistoux reagieren konnte, war der Junge verschwunden.
    Pistoux sprang ihm hinterher, blieb in der Tür stehen und sah gerade noch, wie der Junge ihm eine Nase zeigte und hinter einem Bretterzaun auf dem Nachbargrundstück verschwand.
    »Was zum Teufel ist denn hier los?«, brüllte Friedrich Dunkel mit donnernder Stimme.
    Pistoux drehte sich erschrocken um. Der Bäcker stand in der Tür zur Vorratskammer, mit hochrotem, wutverzerrtem Gesicht.
    »Da … war … ein Junge«, sagte Pistoux stotternd.
    »Kreuzdonnerwetter!«, brüllte der Bäcker. »Hab ich denn nicht ein Schloss an die Tür gemacht!«
    »Du hast bestimmt vergessen, es abzuschließen«, sagte seine Frau, die jetzt hinter ihm auftauchte und versuchte, zwischen ihrem Mann und dem Türrahmen hindurch einen Blick in die Kammer zu werfen.
    »Ach Gott«, sagte sie. »Das Regal ist umgestürzt.«
    »Vandalen!«, schrie der Bäcker und trat gegen eine zerbrochene Flasche die am Boden lag. »Diebe! Verkommenes Pack!«
    Frau Dunkel drängte sich an ihrem Mann vorbei.
    »Haben sie was gestohlen?«, fragte sie.
    »Es war nur einer«, sagte Pistoux. »Ein zerlumpter Junge.«
    »Ja, Lumpenpack!«, rief der Bäcker. »Totschlagen sollte man sie alle.«
    »Ich glaube nicht, dass er etwas mitgenommen hat. Er wollte wohl was zu essen stehlen. Er sah hungrig aus.«
    »Pah!«, rief Dunkel. »Hungrig. Etwas zu essen wollte er stehlen. Ja allerdings, aber kein Brot, mein Lieber, kein Brot, nein, nein …« Er bückte sich, um einige Gewürzsäckchen aufzuheben.
    Pistoux sah die Bäckersfrau fragend an: »Was denn, wenn kein Brot?«
    »Na, Lebkuchen«, sagte sie. »Diese Lausebengel haben uns die ganzen Lebkuchenherzen gestohlen.«
    »Lausebengel?« Dunkel stand ächzend auf und legte die Gewürzsäcke auf ein stehen gebliebenes Regal. »Verbrecher sind das!«
    Lebkuchen schmecken natürlich besser als Brot, dachte Pistoux.
    Der Bäcker hob drohend die Faust. »Aber das nächste Mal werden sie teuer bezahlen«, sagte er und kniff die Augen
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