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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind
Autoren: Robert Holdstock
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    Wieder träumte sie von der Steinzeit. Beim Erwachen war sie enttäuscht, weil die Bilder so schnell schwanden und nur Kälte und seltsame, fremdartige Gerüche zurückließen. Wie lebhaft war doch die Erinnerung an jenen großen Hügel gewesen, wie durchdringend der Klang der primitiven Meißel auf den Steinen, der in der stillen Sommerluft widerhallte. Und die vertrauten Gesichter, die sich in dem kleinen Raum drängten, und das erregte Geplapper, das in der feuchten Enge des Grabgewölbes so unwirklich und hohl klang. Flackerndes Licht hatte die Felswand erhellt, die den Gang begrenzte … Schmerz und Lust hatte sie erlebt … doch als sie beim Erwachen daran dachte, waren es nur bedeutungslose Worte, und geblieben war ihr das Gefühl hohen Alters, rätselhaften, bizarren Tuns in der Morgendämmerung der menschlichen Kultur … Alles Vorherige war Traum gewesen.
    Der Traum zerfiel, doch Elspeth Mueller blieb noch ein paar Minuten liegen und wartete ab, bis die Nachbilder sich völlig aufgelöst hatten und der Wald, in den sie blickte, volle Wirklichkeit gewann. Das Lustgefühl verging, doch nicht der Schmerz. Der Schmerz blieb.
    Ein Weilchen später richtete sie sich auf, um ihr Fußgelenk zu untersuchen, das in dem niedrigen Unterschlupf, einem flüchtig aus Blaurinde und totem Gestrüpp errichteten Zelt, seine Schwierigkeiten hatte. Die Schnittwunde war tief, alles war voller Blut. Es war auf ihren Unterschenkeln getrocknet und hatte das weiße Leder ihrer Mokassins durchdrungen, an denen sie stundenlang gearbeitet hatte und auf die sie so stolz war. Sie zog den Schuh von dem verletzten Fuß und erschauerte vor der fettigen Imprägnierung, weil ihr einfiel, woher das Fett stammte. Zögernd berührte sie den klaffenden Schnitt und zog unter Schmerzen die Wundränder auseinander. Ein spitziges Stück Blaurinde, Teil des bogenförmigen Rahmens ihres Unterschlupfs, war ihr, während sie schlief, in den Knöchel gedrungen. Vielleicht war es, da es unter Spannung gestanden hatte, abgesprungen; irgendwann in der langen Nacht hatte sie sich aufgespießt. Erwacht war sie nicht, aber noch im Traum hatte sie den Schmerz verspürt.
    An diesen Schmerz, der ihren zweiten, unterbewußten Besuch jenes steinzeitlichen Hügels begleitet hatte, erinnerte sie sich jetzt wieder. Und an einen anderen. Seltsam, wie sich diese beiden, viele Jahre auseinanderliegenden elementaren Ereignisse so vage und doch in einem so logischen Zusammenhang vereinigen konnten – während eines kurzen Traumes, eines kurzen Transzendierens aus der normalen Zeit. Ein fast tödlicher Schmerz in der Kindheit und ein Erlebnis der jüngsten Vergangenheit (die Erforschung des Hügelgrabes) waren im Halblicht ihres schlummernden Geistes zusammengeflossen.
    Schmerzen waren ihr vertraut. Der rituelle Schmerz in ihrer Pubertät, der letzte, kaum noch ertragbare Eingriff bei der Jungfrauenweihe, und zwar einer ganz speziellen Form derselben – der Weihe zur magda, das heißt zur Frau ohne Brüste, ohne Kinder –, verfolgte sie jetzt immer öfter und stärker in den Stunden des Schlafes …
    Als ob mein Hirn das Schwinden des Gedächtnisses spürt – und sie berührte ihre Brust –, als ob es wüßte, wie bald ich vergessen werde …
    Doch in jenem alten Tal auf dem Planeten Erde hatte sie keine Schmerzen gehabt. Gewiß, es schmerzte, wenn die anderen über ihre fast abseitige Fremdartigkeit lachten und ihre Witze machten, wenn eine Freundschaft, die auf ganz natürliche Weise zur Liebe reifte, dann welkte und abgeschnitten wurde, weil ihr das fehlte, was jenes Ritual ihr genommen hatte.
    Diese Jahre, diese zwanzig Jahre, die sie in der normalen Gesellschaft verbrachte, hatten vergiftet, was an ihrer Jungfrauenweihe schön gewesen war. Wenn sie jetzt an ihren Heimatplaneten dachte, so erschien er ihr als eine brutale Welt von barbarischen Sitten, eine schreckliche Welt, die hinter ihren Jalousien aus Stahl und Glas so primitiv war wie der Aeran mit seinen Schleudern und Steinen.
    Und doch – sie berührte die beiden blitzenden Juwelen, die fest und tief in die Haut ihrer Brust eingenäht waren –, und doch ist die Erde in mir, in meiner ganzen Rasse. Erde und Stein, eng verbunden mit dem blutvollen Leben meines Leibes …
    Vielleicht deswegen fühlte sich Darren – fast noch ein Knabe, doch schon ein sehr erfahrener Jäger – von ihr so stark angezogen.
    ,Steinfrau’ nannte er sie, und diesen Namen hatte er ihr aus Respekt und Zuneigung gegeben.
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