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Flieh Wenn Du Kannst

Flieh Wenn Du Kannst

Titel: Flieh Wenn Du Kannst
Autoren: Joy Fielding
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1
    Sie dachte an Palmen, hohe braune Bäume, von Jahrzehnten stürmischer Winde gebeugt. Ihre langen grünen Blätter flatterten wie leere Handschuhe vor einem klaren blauen Himmel.
    Rod hatte von einer möglichen gemeinsamen Reise nach Miami im nächsten Monat gesprochen. Ein paar Tage Konferenzen mit den angeschlossenen Sendern, hatte er gesagt, den Rest der Woche dann allein am Strand wie einst Burt Lancaster und Deborah Kerr – wie sie das fände? Sie fand es sehr verlockend. Seitdem verfolgten sie Bilder von Palmen und blauem Himmel. So eine Reise würde sich allerdings nicht ohne gewisse Schwierigkeiten arrangieren lassen – sie würde ihren Schulleiter belügen müssen, ihm erzählen, sie sei krank, ausgerechnet sie, die sich immer damit brüstete, zu diesen widerlich gesunden Leuten zu gehören, denen Erkältungen oder Grippeviren nichts anhaben konnten. Sie würde außerdem ihre Stunden schon im voraus genau planen und einteilen müssen, damit die Lehrkraft, die für sie einsprang, wissen würde, was in welchem Tempo durchzunehmen war. Aber das waren nur kleinere Unannehmlichkeiten, die sie für eine romantische Woche mit dem Mann, den sie liebte und der seit fünf Jahren ihr Ehemann war, gern in Kauf nahm.
    Bonnie holte tief Atem und verscheuchte die Bilder von Palmen, die sich im Wind wiegen, um wieder die Realität in den Blick zu bekommen. Kleinere Unannehmlichkeiten vielleicht. Aber wie sollte es ihr gelingen, eine weiß Gott nicht ungesunde Gesichtsfarbe vor einem mißtrauischen Schulleiter zu kaschieren? Wie sollte sie es schaffen, dem Mann ins Gesicht zu sehen, ohne rot zu werden, mit ihm zu sprechen, ohne ins Stottern zu geraten? Wie sollte sie mit seinen besorgten Fragen nach ihrem Befinden umgehen? Sie haßte Lügen, schätzte Ehrlichkeit höher als alles andere. (»Du bist meine Brave«, hatte ihre Mutter oft gesagt.) Und sie war stolz darauf, daß sie in fast neunjähriger Tätigkeit als Lehrerin nicht einen Unterrichtstag wegen Krankheit versäumt hatte. Konnte sie es sich wirklich erlauben, fünf Tage hintereinander zu fehlen, nur um sich mit ihrem Mann an einem Strand in Florida zu aalen?
    »Außerdem«, sagte sie laut und sah zu ihrer dreijährigen Tochter hinunter, »wie soll ich es schaffen, dich fünf ganze Tage allein zu lassen?« Sie neigte sich zu Amanda hinüber und streichelte ihre Wange mit der kaum verheilten kleinen Narbe, die von einem kürzlichen Sturz vom Dreirad stammte. Wie zerbrechlich Kinder doch sind, dachte Bonnie, während sie den süßen Kindergeruch ihrer Tochter einatmete.
    Amanda öffnete die großen blauen Augen.
    »Oh, du bist wach, hm?« fragte Bonnie und gab ihrer Tochter einen Kuß auf die Stirn. »Keine bösen Träume mehr?«
    Amanda schüttelte den Kopf, und Bonnie lächelte erleichtert. Amanda hatte sie um fünf Uhr morgens weinend geweckt, von einem Alptraum erschreckt, an den sie sich nicht recht erinnern konnte.
    »Nicht weinen, mein Schatz«, hatte Bonnie geflüstert und Amanda in ihr Bett geholt. »Du mußt nicht mehr weinen. Es ist ja alles gut. Mama ist da.«
    Als sich Bonnie jetzt über sie neigte, sagte sie zärtlich: »Ich hab’ dich lieb, mein kleiner Schatz.«
    Amanda kicherte. »Ich hab’ dich aber noch mehr lieb.«
    »Das ist unmöglich«, entgegnete Bonnie. »Du kannst mich gar nicht mehr liebhaben als ich dich.«
    Amanda verschränkte mit ernsthafter Miene die Arme über ihrer Brust. »Okay, dann haben wir uns eben beide genau gleich lieb.«
    »Okay, wir haben uns beide gleich lieb.«
    »Außer daß ich dich noch mehr liebhab’.«
    Lachend schwang Bonnie ihre Beine aus dem Bett. »Ich glaube, jetzt wird’s langsam Zeit, dich für den Kindergarten fertigzumachen.«
    »Das kann ich selber.« Und schon im nächsten Moment rannte Amanda mit flatterndem rosa Nachthemd durch den Flur zu ihrem Zimmer.
    Woher haben sie nur diese Energie? fragte sich Bonnie, während sie wieder unter die Decke kroch, um noch einen Augenblick die Stille des frühen Frühlingsmorgens zu genießen.
    Das Telefon läutete. Das schrille Geräusch zerriß so unerwartet die Stille, daß Bonnie zusammenzuckte. Wer konnte um diese Zeit anrufen? Es war noch nicht einmal sieben Uhr.
    Widerstrebend öffnete sie die Augen und blickte zu dem Telefon auf dem Nachttisch neben dem großen französischen Bett. Dann richtete sie sich unwillig auf und hob verärgert den Hörer ab.
    »Hallo?« Überrascht stellte sie fest, daß ihre Stimme noch ganz verschlafen klang. Sie räusperte
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