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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily
Autoren: Jürgen Saarmann
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1. MORGEN
     
     
    Die blütenübersäte Traumwiese verschwand unter den lehmfarbenen Schollen einer Mure. Das dumpfe Poltern und der kaum unterdrückte, englischsprachige Fluch kam en von oben. Er schlug die Augen auf. Das Kopfkissen lag mit klaffendem Bezug neben dem Bett und entblößte ein fleckiges Inlett. Der erst gestern nachmittag gekaufte Quarzwecker im Retro-Design führte an der Wand links neben der Badezimmertür seine Innereien vor: ein possierliches Chaos aus Däumlings Spielzimmer.
    Die weiße Rauhfasertapete hatte den heftigen Aufprall in Form von zwei winzigen, ein wenig leprösen Schmetterlingen verewigt, hervorgerufen durch die geflügelten Stellschrauben, die jetzt still inmitten des liliputanischen Tohuwabohu mit stumpfem Glanz am Boden ruhten. Silbrige Staubfahnen trieben träge in Wirbeln durch die Lanze aus Licht, die sich durch den schadhaften Rolladen stahl und zaghaft den Inhalt des offenen Kleiderschranks abtastete. Gebügelte Hemdenmanschetten wurden sichtbar. Weiter zur Tür hin baumelten die linken Ärmel von vier Jacketts in unterschiedlichen Grautönen. Zwei davon hatten Knitterfalten in den Armbeugen und in der Nähe der ins Dunkle übergehenden Schulterpartie. Aus der maulartigen Öffnung zwischen Teppichboden und dem geschwungenen Sockel des Schranks lugte ein einzelner Nylonstrumpf hervor – die abgestreifte, knitterige Haut einer Schlange.
    Oben fiel die Seife abermals in die Duschwanne. Ein gedämpftes „Fuck“. Füße drehten sich quietschend auf dem emaillierten Metall, ein Körperteil von stabiler Konsistenz rumste gegen die Kabinenwand. Ein neuer Tag war angebrochen. Man stand auf, ging unter die Dusche und bereitete sich auf Ereignisse vor, die in den Untiefen des Tages lauern mochten.
    Träge schob er sich zum rechten Bettrand, um einer krustigen Region in der Mitte der zerklüfteten Landschaft des Lakens auszuweichen. Ihre Entstehung verdankte sie der letzten Anwesenheit von Martha. Sie hatte ihn von sich gestoßen, weil ihn plötzlich eine unbezwingbare Lachlust überkommen hatte. Ihr Gesicht sah wirklich zu niedlich aus, wenn sie auf diese Weise in sich vertieft war. Ihre Brauen hatte sie zusammengezogen, die Augen zugekn iffen, die Lippen zusammengepresst. Ihre zarten Nasenflügel bebten, kleine Schweißperlen waren auf ihre Oberlippe getreten. Es sah aus, als zöge sich ein Kind aus Angst vor körperlicher Züchtigung zitternd in sich selbst zurück.
    Der Kontrast zwischen diesem im Gesicht aufscheinenden kindlichen Wesen und der duftenden Frau, die ihm ihren Körper rhythmisch entgegenhob und quälend langsam wieder ein klein wenig entzog, hatte sein Herz mit einem Gefühl gefüllt, das nur mit Hilfe eines wilden Gelächters abfließen konnte. Danach dauerte es genau drei Minuten. In dieser Zeit hatte sie sich angezogen und die Wo hnungstür hinter sich ins Schloss geknallt. Kein Wort war gefallen, aber sie hatte geglüht wie ein ausgebranntes Benzinfass.
    Auch er schwieg während ihres Aufbruchs. Er wartete hilflos in dem schnell erkaltenden kleinen Tümpel unter seiner Hüfte, der sich während der rasanten Metamorphose seines Lachens in ein tiefes, schmerzliches Stöhnen aufgetan hatte. Sein Schweigen hieß Sc ham. Natürlich war er sich bewusst, welch einen Tabubruch er begangen hatte. Man lachte nicht in derartigen Situationen, wenn es nicht eine Übereinkunft gab, diese Art der Beschäftigung grundsätzlich oder fallbedingt als belustigend anzusehen. Ein Gelächter-Solo in diesem Zustand der Hingabe war in jedem anderen Fall eine Ohrfeige für die Götter der Liebe, ein zynischer Kommentar zu menschlichem Vertrauen, ein Einbruch kalter Rationalität in den Zauberreigen größtmöglicher menschlicher Intimität.
    Er verabscheute sich. Seine Rührung, seine Zuneigung, seine Sehnsucht hatten sich verirrt, hatten den falschen Ausdruck gewählt. Tränen wären angemessen gewesen für dieses Gefühl des Ineinanderfließens, des Bewunderns, des Verlorenseins in einem anderen Geschöpf der eigenen Spezies. Wer in ihm, verdammt, entschied so verantwortungslos über die Form der Reaktion?
    Später hoben sich die emotionalen Nebelschwaden um einige Zentimeter. Aber das klarere Denken führte ihn nur wieder in neue Depressionen. Er wurde sich klar darüber, dass er diesen unseligen Vorfall auch aus einem ziemlich selbstsüchtigen Grund gerne ungeschehen gemacht hätte. Er hatte Aussprachen, Diskussionen, Vorwürfe und unterwürfige Entschuldigungen hassen gelernt. Und
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