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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily
Autoren: Jürgen Saarmann
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sich ein Brötchen auf, das von seinem frugalen Abendessen übriggeblieben war. Es war schon am Vortag wie etwas gewesen, das der Maurer vergessen hat. Nach der Sitzung auf dem Toaster sah es wie ein Brikett aus, aber er hatte nichts anderes im Haus. Der Gedanke, sich beim Bäcker um die Ecke frische Backwaren zu besorgen, war ihm zuwider, denn dabei würde er unweigerlich den seltsamen Menschen begegnen, die bereits um diese Uhrzeit hastig Fahrbahnen überquerten, mit Körben in den Händen Läden betraten, sich kurze, klingende Grüße zuriefen und überhaupt sehr zielgerichtet agierten. Er wollte lieber noch ein Weilchen nackt herumgehen, sich im großen Spiegel im Schlafzimmer gemächlich auf Alterungserscheinungen untersuchen und langsam auf diesen Tag einstimmen, der mit dem Poltern von Seife begonnen hatte, ein leider notwendiges Intermezzo in der Redaktion enthielt und vielleicht endlich mal wieder im Rule Britannia enden würde.
    Das langsam lauter werdende, sich wiederholende Plagiat einer klassischen Melodie ließ ihn in der Analyse seiner Körperformen innehalten. Diese Falten, die sein Bauch inzwischen warf! Aber war es das Telefon von oben, das ähnlich asiatisch wimmerte wie seins, oder kam das Geräusch von seinem Nachttisch? Er stürzte sich auf das tatsächlich blinkende und klagende Gerät, in dessen defektem Anzeigefeld sich nur noch einige Grundstriche abzeichneten, und meldete sich.
    Am anderen Ende räusperte sich jemand, und er sah die Person vor sich: Mann, Mitte fünfzig, schlampig gekleidet, graumelierte Bartstoppeln und fettige Haare. Gelbliche Haut, Tränensäcke und ein Aschenbecher mit dreißig Stummeln daneben – Typ des chronisch erfolglosen Privatdetektivs aus einem Film der fünfziger Jahre. „Ja bitte?“, wiederholte er ärgerlich. „Herr Klage?“, sagte die rauhe Stimme, die jetzt doch zu hoch für das Bild seiner Vorstellung zu sein schien. „Ja doch, Thomas Klage! Mit wem habe ich die Ehre?“ Er mochte es manchmal, ein wenig herrenmäßig zu klingen, wenn das auch zu seinem aktuellen Aufzug nicht passen wollte. Aber es sah ja niemand, dass er nackt und in ziemlich unansehnlicher Position über dem Bett lehnte.
    „Hier Beatrice Richter von der Chefredaktion. Der Chef w ollte sich nur vergewissern, dass Sie heute zur Redaktionssitzung kommen. Ich soll ausrichten, Sie möchten bitte pünktlich sein.“ Da schickte sein Chef eine seiner bresthaften Löwinnen aus, um sicherzugehen! Was musste der für ein Bild von ihm haben. Klar doch kam er. Wozu war er sonst aufgestanden? „Aber sicher, Frau Richter, ich bin pünktlich da.“ Und er hauchte einen höflichen Abschiedsgruß in die Muschel, während plötzlich erneut eine Lawine aus Lärm auf ihn niederprasselte.
    Die Urheber, seine Nachbarn von oben – Jack und Henry, zwei noch recht junge Engländer – waren ein Paar. Allerdings eines der ihm sympathischen Sorte, das seine sexuelle Präferenz nicht zu einer exklusiven Lebensanschauung erhoben hatte und ihn daher nie damit konfrontierte. Sie hielten sich jeder modischen Zurschaustellung einer obskuren Sippenzugehörigkeit diszipliniert fern. Gay Parade oder Christopher Street Day waren für sie Auswüchse einer entfesselten, hirnlosen Homoerotik, die um so abstoßender wurden, desto häufiger auf ihnen vorgeblich vorurteilslose Politiker um Wählerstimmen warben.
    Die Instrumentalisierung der bei diesen Anlässen offen zur Schau gestellten Geilheit des Mobs und die hemmungslose Sexualisierung menschlichen Seins waren für sie der Gipfel dekadenter Vulgarität, peinliche Wiedergänger aus den späten Tagen des römischen Imperiums. „Wir sind doch in diesem Land alle halbwegs intelligente Menschen“, hatte Jack einmal mit seinem gepflegten englischen Akzent gesagt. „Warum müssen sich manche von uns immerzu unappetitliche Schilder umhängen, mit denen sie anderen vor der Nase herumfuchteln? Sind wir schon so dekadent, dass wir selbst Vorurteile erzeugen müssen, um andere damit vermeintlich zu entlarven?“
    Beide interessierten sich für Kunst, was sie ausdauernd Ausstellungen, Konzerte und Theaterstücke von Künstlern besuchen ließ, von denen kein Mensch außerhalb dieses esoterischen Mikrokosmos jemals würde hören wollen. Sie nahmen immer etwas mit von diesen Veranstaltungen. Häufig berieselten sie ihn durch die dünnen Wände des neuerdings in angeblich zeitlosem Mintgrün getünchten Mehrfamilienhauses aus den Sechzigern mit ihren neuesten akustischen
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