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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily
Autoren: Jürgen Saarmann
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Errungenschaften. Es befanden sich darunter geschreitherapeutische Werke einer Asiatin, die durch gemeinsam mit einem einstmals i n einer speziellen Szene einflussreichen Popmusiker durchgeführte sogenannte „Happenings“ ein kriterienloses Publikum mehr oder weniger subtil erotisch aufgeladen hatte.
    Aber auch ballastreicher Orchesterrock aus Ländern mit konsonantenreicher Sprache oder der neue Soundtrack zu einer postmodernen Aufführung des Lucien Leuwen fand in ihnen fanatische Anhänger. Da sie leicht zu begeistern waren und diesen Furor gern mit anderen teilten, hatten sie ihn schon oft in ihre Wohnung eingeladen, um ihre gerade erworbenen Schätze vorzuführen. Meist handelte es sich dabei – abgesehen von den beschriebenen Exemplaren im Bereich Geräusch – um Werke aus krummgebogenem Draht oder Megatonnen Gips, die auf eigens dafür hergestellten Podesten aus edlem Holz die Wohnung füllten.
    Sogar auf dem Gäste-WC stand so ein poröses, bunt bemaltes Monster, das nicht nur drohte, dem Sitzenden bei günstiger Gelegenheit den Kopf zu Brei zu quetschen, sondern seltsamerweise auch dem Entleeren außerordentlich hinderlich war, da es durch seine Ähnlichkeit mit urtümlichen, gewaltigen Quallen oder anderen widerlich animalischen, beutegierigen Organismen atavistische Ängste erzeugte.
    Sie bewahrten seit Beginn ihrer Freundschaft immer einige Flaschen verschiedener alkoholischer Getränke zusätzlich in ihrem Kühlschrank od er Keller auf, da es vorkam, dass er für eine lange Nacht nicht genügend vorgesorgt hatte. Und in so einem Fall – für die eine Gefährtin benötigte er Champagner, für die andere einen Grauburgunder, für eine dritte musste es Vodka on the rocks sein, er selbst tendierte meistens zu Bier einer bestimmten Sorte - war er auf die vorausschauend angelegten Vorräte und das Verständnis dieser beiden hübschen jungen Männer angewiesen, die zum Glück wie er nachts lange aktiv waren, da ihr Job an der Universität keine festen Arbeitszeiten vorsah.
    Sie waren manchmal ein wenig ungeschickt. Die weckende Seife von heute morgen war noch ein Ereignis von geringerer akustischer Intensität. Manchmal, wenn sie sich wie zwei Halbwüchsige spielerisch durch die Wohnung jagten, fiel eines der Gipsmonster mit einem Donnern zu Boden, als sei die Pyramide von Gizeh auf einer Karawane von Gläubigen zerschellt. Die Drahtgespenster dagegen pflegten beim Aufprall hell zu singen und sehr lange nachzuschwirren, was in der Regel zu einer anhaltenden Gänsehaut führte. Diese Geräusche einer gefallenen Kunst, diese Konzerte von extrem ausdrucksstarken, aber umsatzarmen Künstlern gehörten für Tom mittlerweile zu seiner natürlichen Umgebung.
    Er selbst bevorzugte den weniger anspruchsvollen metallischen Lärm von Grandfunk Railroad und Humble Pie, die wuchtige Rhythmusakrobatik von Led Zeppelin, die haschischumwölkte, virtuose Friedfertigkeit von Jefferson Airplane oder – manchmal – so etwas wie die kolossale Weltwunderdramatik von Schuberts Requiem. Da er nicht kleinlich war, gewährte er seinen Freunden manchmal einige Phon davon. Vor allem dann, wenn er nachts allein war und zu später Stunde seine Hemden bügelte, neigte er zu tosenden Zugaben von I don’t need no doctor, live from Filmore East.
    Außer der Redaktionssitzung, die der Chefredakteur wieder nutzen würde, um ihn wegen seines letzten Beitrags dramatisch zu kritisieren, wartete heute zum Glück nur noch die ehemalige Stammkneipe aus Studententagen, unter Eingeweihten verkürzt Brit genannt, und ein neues, kleines Projekt auf ihn: eine Geschichte, die er für das sechzehnseitige, schlampig auf lachsrosa Papier kopierte Blättchen der Kirchengemeinde zu schreiben hatte.
    Der langhaarige und im rechten Ohr einen Ring mit kreuzförmigem Anhänger tragende Pfarrer, der ihm am Ende seiner letzten, selbstzerstörerischen Sauftour nach der Trennung von Martha vom feuchten Beton der Straße aufgeholfen hatte, rang ihm dieses Versprechen trotz seines erbärmlichen Zustandes noch ab – ein sonderbar zielorientiertes Verhalten für einen Mann Gottes. Während er sich die Reste des Erbrochenen achtlos mit dem Handrücken von der Soutane wischte, hatte er gesagt: „Der liebe Gott verzeiht Ihnen – ER verzeiht ja grundsätzlich allen. Aber ich werde nur dann für Sie beten und Ihnen außerdem die Kosten für die Reinigung erlassen, wenn Sie mir auch so eine kleine, erbauliche Geschichte schreiben, wie Sie sie neulich für die
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