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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel
Autoren: Aurélien Molas
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Fragen und scheele Blicke. Im Hintergrund übertrug der Fernseher in der Cafeteria live die Vorwürfe des Anwalts. Sie schlichen dicht an den Wänden entlang, wichen den Wachposten aus und benutzten die Treppe, um in den obersten Stock zu gelangen.
    Erst als sie sich in ihrem Büro eingeschlossen hatten, ihrem Adlernest im Dachgeschoss des Quai des Orfèvres 36 – dem Sitz der Pariser Kriminalpolizei –, entspannten sich Léo und Maxime. Die klösterliche Strenge des lang gestreckten Raumes beruhigte sie nach und nach. Der Lieutenant trat an eines der Fenster, die auf die Seine gingen.
    »Wieso ist Broissard heute nicht gekommen?«
    »Ich habe ihn nach Le Havre geschickt. Ziemlich große Sache.«
    »Ich hätte doch hinfahren können!«
    »Ich wollte ihn von Paris fernhalten. Ich glaube nicht, dass Alain diesen ganzen Zirkus ertragen hätte. Er wird dir seine ersten Ergebnisse zuschicken. Der vorläufige Bericht ist da«, sagte er und hob einen dicken Umschlag auf. »Es geht um ...«
    Er wurde von einem dumpfen Klopfen an die Tür unterbrochen. Die Kommissarin des OCLCTIC wirbelte wie eine Furie herein, ohne eine Antwort abzuwarten.
    »Jetzt reicht’s aber wirklich, Maxime! Sich so vor den Journalisten aufzuführen. Was wollen Sie? Die Polizeibeamten als verantwortungslos hinstellen?«
    Die schlanke, etwa vierzigjährige Frau war von bemerkenswerter Schönheit. Jetzt hingegen, wo sie Maxime gegenüberstand, glich sie plötzlich einer wütenden Katze, die ihre Krallen zeigte. Von dem Angriff überrumpelt, wich er kurz zurück, ehe ihm das Blut zu Kopfe stieg.
    »Wo glauben Sie eigentlich, wo Sie sind, verdammt?«, fauchte er sie an, während er sich in seiner ganzen hünenhaften Statur wieder aufrichtete. »Hier sind Sie in meiner Abteilung. Sie haben mir keine Anweisungen zu erteilen oder Vorhaltungen zu machen!«
    Die Kommissarin ließ sich nicht einschüchtern. Klein beigeben gehörte nicht zu ihren Gewohnheiten. Getreu ihrem Ruf als »eiserne Lady« machte sie einen Schritt auf ihn zu, elektrisiert von der Konfrontation.
    »Da sind Sie noch nicht auf dem neuesten Stand! Das Ministerium hat mich beauftragt, Sie persönlich darüber zu informieren, dass Sie zeitweilig Ihres Amtes enthoben sind.«
    »Das ist unmöglich! Diese Dreckskerle können mir das nicht antun!«
    »Es wurde eine interne Untersuchung gegen Sie eingeleitet. Das Dezernat für interne Ermittlungen hat Ihre Personalakte und die von Capitaine Broissard beschlagnahmt. Sie sind mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.«
    »Bis wann?«, schnaufte er mit rot angelaufenem Gesicht.
    »Der Staatsanwalt hat die Strafanzeige, die gegen Sie erstattet wurde, zur Kenntnis genommen, allerdings noch nicht entschieden, wann der Prozess beginnen soll. Das hängt ganz allein vom Ergebnis der Ermittlungen und der Zahl der Straftaten ab, die Sie begangen haben. Aber in Anbetracht dessen, was sich heute Abend ereignet hat, ist dies nur eine Frage von wenigen Tagen.«
    Sie starrten sich feindselig an, bereit, übereinander herzufallen. Maxime Kolbe gab als Erster nach. Er ließ die Schultern sinken, und ein enttäuschtes Lächeln verzog seine Lippen.
    »Sind Sie jetzt zufrieden? Sie konnten es doch kaum erwarten ...«
    »Ob Sie es glauben oder nicht, Ihr Fall ist mir ziemlich egal. Ich war von Anfang an der Meinung, dass Ihre Dienststelle überflüssig ist und nur unnötig finanzielle Ressourcen verschwendet. Was Ihre kriminalistischen Fähigkeiten anlangt, so ist Ihre Aufklärungsquote beeindruckend, vielleicht zu beeindruckend ...«
    »Was wollen Sie damit andeuten?«
    »Dass es Zeit ist, aufzuklären, was in diesem Büro vor sich geht, Herr Kommissar.«
    Léopold Apolline stieg hinunter zur Uferpromenade – im Hintergrund floss träge die Seine dahin. Obdachlose verbrannten Zeitungen in Blechwannen, andere schlüpften in ihre Zelte, die zwischen den Gerüsten an den Brückenpfeilern aufgeschlagen worden waren.
    Ein Teil von ihm konnte nicht verstehen, dass der Kommissar so leicht nachgab. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Maxime wusste genauso gut wie er, was diese Wörter bedeuteten: Suspendierung, Pensionierung. Seine Dienstmarke abgeben, auf die Überweisung der Rente am Monatsbeginn warten, in seinen Erinnerungen dahinvegetieren, während man sich auf den Tod vorbereitet. Undenkbar bei jemandem wie Maxime Kolbe. Seine Versetzung in den Ruhestand wäre wie ein Todesurteil.
    Und die Totenmesse war noch nicht einmal gelesen. Der von Neonlichtern
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