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Nachtfalter

Nachtfalter

Titel: Nachtfalter
Autoren: Petros Markaris
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    D ie Erschütterung ist fast unmerklich. So, als ob jemand im oberen Stockwerk hin und her liefe.
    »Ein Erdbeben!« kreischt Adriani. Bei Hungersnöten, Erdbeben und Unwettern ist sie in ihrem Element.
    »Ach was, reine Einbildung!« sage ich, während ich den Blick von Dimitrakos’ Wörterbuch hebe, wo ich gerade den Eintrag zum Wort Sommerfrischler durchlese.
    Sommerfrischler = jmd. der sich zur Sommerfrische an einem Ort aufhält. Sommerfrische (veraltet): Erholungsaufenthalt im Sommer auf dem, an der See, im Gebirge.
    Wir sind auf die Insel gekommen, um unseren Urlaub hier zu verbringen, und wohnen bei Adrianis Schwester. Ich ließ mich nur halbherzig darauf ein, weil ich ungern irgendwo zu Gast bin, wo ich mich nicht richtig gehenlassen kann. Aber erstens wollte Adriani ihre Schwester besuchen, und zweitens müssen wir unseren Gürtel in diesem Jahr ohnehin enger schnallen, wegen des Studiums unserer Tochter Katerina in Thessaloniki. Nicht einmal ein Zimmer mit Außentoilette – ein room to let , wie auf jedem ehemaligen Ziegenstall der Insel zu lesen steht – können wir uns leisten. Geschweige denn ein Bed & Breakfast , wie sich Adriani ausdrückt. Früher gab es Ziegenställe und Ziegen. Heute nur mehr Ziegenställe und Touristen.
    Das Haus ist zweistöckig, liegt aber nicht direkt am Meer, sondern auf einer Anhöhe im Landesinneren, unweit des Hauptortes der Insel. Mein Schwager hat es mit seinem Bruder im goldenen Zeitalter der EU-Subventionen für die griechische Landwirtschaft gebaut. Mein Schwager ist Schmied, sein Bruder betreibt ein Kafenion – also weit und breit keine Beziehung zum stolzen Bauernstand. Sie hatten aber ein Stück Acker von ihrem Vater geerbt, ließen es durch irgendwelche Albaner bestellen, sackten die Ernte ein und kassierten die Subventionen. So kamen sie zu einem Mehrfamilienhaus. Wenn man die Schicht Ziegel mit dem bißchen draufgepappten Verputz überhaupt Haus nennen kann.
    Am ersten Nachmittag hatte ich mich ein Stündchen aufs Ohr gelegt, als ich plötzlich von einem mächtigen Krawall aufgeweckt wurde. Das Haus wurde bis in die Grundfesten erschüttert, und eine weibliche Stimme schrie: »Ach … ach … ach …!« Da mir mein Polizistendasein in Fleisch und Blut übergegangen ist, dachte ich zunächst, der Bruder meines Schwagers würde seine Frau schlagen. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß er sie nicht schlug, sondern vögelte und ich durch ihr Stöhnen aus dem Schlaf gerissen worden war.
    »Psst, du wirst doch nicht horchen, schäm dich!« zischte mir Adriani zu, die eine schlüpfrige Phantasie hat, weshalb sie sich auch in der Fastenzeit streng kasteit.
    »Vier Uhr nachmittags – wie bringt er sich um die Zeit bloß in Stimmung?«
    »Ja, begreifst du denn nicht? Die Kinder sind gerade außer Haus.«
    Die besagten Kinder sind zwei Jungen – ein Steppke von ungefähr zehn und ein Dreikäsehoch von ungefähr acht Jahren, die beide Basketballspieler werden wollen. Und ihr Herr Papa hatte im Fernsehen von den Millionen gehört, die man als langer Lulatsch einstreichen kann, egal welcher Nationalität man angehört. Also hat er ihnen einen löchrigen Korb im Wohnzimmer aufgestellt, damit sie lernen, von der Glasvitrine wie von einer unsichtbaren Dreipunktelinie aus Würfe auszuführen. Das Training war hart, zweimal täglich, morgens und abends, mit Ball- und Sprungübungen, Geschrei und Geschimpfe. Ich verkrümelte mich regelmäßig und setzte mich in das Kafenion ihres Vaters, wo ich für eine Tasse Kaffee einen Fünfhunderter hinblättern mußte, statt Schmerzensgeld zu erhalten.
    An das Getrappel des Basketballtrainings gewöhnt, sage ich zu Adriani, das Erdbeben bilde sie sich bloß ein. Aber die weitere Entwicklung straft mich Lügen. Das Haus löst sich nämlich von seinen Grundmauern, schwebt unentschlossen in der Luft und stürzt mit einem schrecklichen Krachen wieder auf den Boden. Das Bild mit den beiden Schäfchen an der Quelle knallt herunter, während die beiden über dem Bild hängenden Ziegenglocken wie wild bimmeln.
    Das Erdbeben hält einen Augenblick inne, um mit neuerlicher, noch größerer Wucht wieder einzusetzen. Das Haus erzittert, und die Möbel rutschen hin und her. An der Wand gegenüber klafft mit einem Mal ein riesiger Riß und bietet einen so dramatischen Anblick, als wollte sich der Peloponnes vom Festland lösen. Mauerbrocken stürzen auf die bordeauxrote Sitzgarnitur mit Goldstreifen im Wohnzimmer, die mein Schwager bei
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