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Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Titel: Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
Autoren: Helmut Pöll
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sie einmal gefragt, an welcher Krankheit Gerd gestorben ist.
    „Die Ärzte wissen es nicht“, hat sie rumgeeiert.
    „Doch, wissen sie“, habe ich geschlaumeiert, was ich manchmal gerne tue.
    „Er hat sich tot gesoffen.“
    Da hat sie mir aus heiterem Himmel eine schallende Ohrfeige gegeben, hat geheult und ist gegangen. So also sind die Erwachsenen.
    Beim Abendbrot habe ich weitergebohrt und meinen Vater gefragt:
    „Ist Tante Gisela auch Alkoholikerin?“
    Mein Vater versteckt sich, wenn wir mit dem Essen fertig sind, aber noch am Tisch sitzen, gerne hinter einer großen Wirtschaftszeitung und schmökert dann über dem ganzen Aktienkäse und schimpft darüber, was die Regierung macht oder nicht macht. Irgendwas mit Zinsen oder Steuern oder so. Fragt man ihn etwas Unangenehmes, tut er so, als hätte er nichts gehört. Deshalb muss man dann ganz deutlich und laut die Frage wiederholen:
    „IST TANTE GISELA AUCH ALKOHOLIKERIN?“
    Mein Vater hat ganz kurze graue Haare, deshalb weiß ich, dass er nicht wie meine Mutter einen Genervt-Schalter darunter versteckt. Aber er war genervt. Er atmete so laut aus wie das Nebelhorn von einem Dampfer. Aber egal, wie genervt er ist, er rastet nie aus wie Gerd oder so, sondern hat sich immer total unter Kontrolle. Dann senkte mein Vater die Zeitung und sah mich über seinen Brillenrand streng an.
    „Wie kommst du denn auf so einen Unsinn?“
    „Gerd hat sich nicht tot getrunken“, mischte sich meine Mutter ein.
    „Dann sagt mir, woran er gestorben ist. War er krebskrank oder Bluter?“
    „Er war – müde vom Leben.“
    Bingo. Das war natürlich eine schlechte Lüge. Ich sammle mit Mona schlechte Lügen unserer Eltern. Einmal in der Woche schreiben wir sie zusammen in ein Schulheft. Was wir am Ende des Jahres damit machen, wissen wir noch nicht. Aber damit es spannender wird, muss jeder von uns, der eine schlechte Lüge entlarvt, sofort eine Nachfrage stellen und sehen, was passiert.
    „Wie schnell stirbt man, wenn man müde vom Leben ist?“
    Ich finde, das war auch ziemlich geschickt von mir, weil es eine offene Frage ist, die man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten darf. Man muss also mehr dazu sagen.
    „Ach, du wieder“, sagte meine Mutter.
    Dann fiel mir noch eine ein:
    „An welchen Wochentagen werden die meisten Toten bei dir im Krankenhaus eingeliefert, die müde vom Leben sind?“
    Ich hatte meine Mutter eingekesselt. Sie kapituliert dann, weil sie es mit der Hartnäckigkeit eines ADS-Kindes nicht aufnehmen kann. Sie hat nicht soviel Energie wie ich. Das weiß sie auch und es macht sie wütend. Aber diesmal war es mein Vater, der laut wurde.
    „Ja, Gerd hat sich tot gesoffen. Aber jetzt halt den Mund und sprich Tante Gisela gegenüber nicht davon.“
    Manchmal glaube ich gar nicht mehr, dass die Erwachsenen uns Kindern überlegen sind.
    Gerd ist der erste Mensch, den ich kenne, der gestorben ist. Außer meinem großen Bruder natürlich, aber das war ein Unfall. Ich meine so richtig gestorben, weil man so alt ist, oder das Herz auf einmal stehen bleibt, weil es keinen Bock mehr zum Schlagen hat. Das macht mich ganz hibbelig.
    Ich will nämlich nicht sterben. Also so plötzlich an der Bushaltestelle umfallen. Vielleicht auch noch mitten in den Sommerferien. Das ist ja völlig doof. Das verstehe ich auch nicht. Eigentlich werde ich bei allem, was ich nicht verstehe und zu dem mir nichts einfällt, total panisch und brauche meine Medikamente.
    Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich nicht plötzlich mitten in den Sommerferien an der Bushaltestelle tot umfallen will. Das wäre gemein, weil ich ja noch drei Wochen Ferien gut hätte und was denn dann mit meinen drei Wochen passieren würde. Könnte ich die wenigstens Mona gutschreiben lassen?
    Meine Mutter hat nur geseufzt und gesagt, dass das kein Thema für ein Kind ist. Ich soll an was anderes denken. Aber dann springt mich der Tod an wie Molly, unsere Siamkatze, die wir vor Jahren hatten und die dann auch überfahren wurde. Ich spüre Mollys weiche Pfoten richtig auf meinem Rücken und habe sogar einmal gesagt, „geh runter Molly“. Aber es war gar nicht Molly, nur der Eindruck, dass mich etwas angesprungen hat.
    Mona fand diese Idee großartig, dass ein Thema einen so anspringen kann, dass man es wie eine Katze auf dem Rücken spürt.
    Ich habe Mona gefragt, wo ihrer Meinung nach all die Toten hingehen. Wir kamen schnell darauf, dass es natürlich sein könnte, dass sie überhaupt nirgends hingingen,
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