Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Titel: Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
Autoren: Helmut Pöll
Vom Netzwerk:
1
    Nennt mich Billy Hoffmann. So würde es Käpt’n Ahab sagen, bevor er raus segelt, um Moby Dick zu fangen. Billy ist ein völlig bescheuerter Name für einen elfjährigen Jungen, außer man ist Engländer oder Amerikaner oder so. Dann hätte man nämlich noch einen zweiten Namen dazwischen, also so was wie „Billy Tiee Hoffmann“. T. steht dann für Trevor oder Timothy oder so. Ich heiße nur Billy Hoffmann, ohne T. Meine Eltern fanden das scheinbar lustig. Oder hatten keine Phantasie. Aber Erwachsene merken sowieso nie, was sie einem Kind antun.
    Immer, wenn ich an einer großen Straße vorbeikomme, dann denke ich an meinen Bruder. Mein Bruder Phillipp ist nämlich tot. Ich stelle mir immer vor, wie er bei dem ganzen Verkehr als Engel über die Straße geht.
    Was ist eigentlich, wenn ein Reisebus mit 50 Tonnen daherkommt? So schwer sind Busse nämlich. Das meine ich natürlich mit den Fahrgästen, also Leuten mit einem durchschnittlichen Gewicht. Wenn ein paar Schwere dabei sind, dann sind es vielleicht sogar noch mehr. Oder wenn der Bus überfüllt ist wie in Indien. Dann kommt man sogar auf 60 Tonnen. Ich habe ein Quartett, bei dem der schwerste Bus leer sogar 35 Tonnen wiegt. Aber das ist ein Greyhound. Und Greyhounds zählen nicht, weil wir nicht in Amerika sind. Außerdem ist es auch total egal, ob der Bus 50 oder 60 Tonnen wiegt.
    Ich frage mich oft, was passiert, wenn ein Bus mit 50 Tonnen mit hundert Sachen heranbrettert. Der Engel reagiert natürlich auf das Hupen gar nicht. Deshalb erwischt ihn der Bus voll. Fliegt der Engel dann wie mein Bruder Phillipp in hohem Bogen über die Böschung?
    Ich war damals erst sechs und dachte, dass mein Bruder vielleicht wirklich fliegen kann. Vielleicht segelt er nur davon, um dem blöden Autofahrer und uns allen einen Schrecken einzujagen. Mein Bruder Phillipp konnte ja nicht ganz verschwinden, weil wir doch die Zirkuskarten hatten und am Abend zu den Elefanten gehen wollten.
    Aber dann kam er nicht mehr hinter der Böschung hoch, um uns alle auszulachen und wir rannten über die Straße. Als ich am Fuß des Damms ankam, kniete meine Mutter in ihrem schönen Kleid und ihrem neuen Mantel in der schlammigen Wiese. Sie machte ihre Sachen ganz schmutzig, obwohl sie sonst immer schimpfte, wenn unsere Sachen schmutzig wurden. Sie hielt meinen Bruder im Arm und rüttelte ihn. Dann fing meine Mutter zu weinen an. Das weiß ich noch ganz genau. Sie weinte immer mehr und ließ Phillipp nicht mehr los. Mein Bruder schlief ganz friedlich, obwohl er noch gar nicht müde sein konnte, weil wir spät aufgestanden waren. Aber heute weiß ich es besser, und heute weiß ich, dass mein großer Bruder nicht fliegen konnte und an diesem Tag gestorben ist.
    Wenn ich ein Engel wäre, dann hätte ich dem Autofahrer, der meinen Bruder totgefahren hat, bevor wir am Abend in den Zirkus zu den Elefanten gehen konnten, mit meiner goldenen Lanze aufgespießt. Meine Mutter sagt immer, das darf man nicht sagen, nicht einmal denken, da wäre der liebe Gott böse.
    Ich habe sie gefragt, woher sie das weiß. Sie kennt ihn ja gar nicht. Weil der liebe Gott arbeitet ja nicht bei uns ums Eck am Kiosk, wo ich immer die Fernsehzeitung holen muss, wenn sie meine Eltern beim Einkauf vergessen haben. „Guten Tag, ich bin der liebe Gott, machen Sie dies, machen Sie das. Das macht dann zwei fuchzig.“
    „Das weiß man eben“, sagte meine Mutter.
    Ich meine aber schon, dass man mit dem Überfahrer seines Bruders nicht zimperlich sein braucht. Wer weiß, wie viele kleine Brüder er seitdem noch überfahren hat.
    Ich sagte meiner Mutter auch, wie gemein ich das alles finde. Phillipp liebte Elefanten. Er war ziemlich mutig und hatte sich irgendwo im Urlaub sogar einmal auf einem fotografieren lassen. Ich habe beide Zirkuskarten, seine und meine, aufgehoben. Wir wollten nämlich an dem Tag, als mein Bruder überfahren worden ist, abends miteinander in den Zirkus zu den Elefanten gehen. Aber das habe ich schon gesagt. Manchmal, bevor ich einschlafe, hole ich die Zirkuskarten aus meiner Geheimtruhe, drücke sie an mein Herz und sage Phillipp, dass ich auch nie zu den Elefanten bin, weil es mir ohne ihn keinen Spaß gemacht hätte. Ich will, dass er das weiß. Manchmal muss ich dann sogar weinen, obwohl ich bald zwölf werde und fast zwölfjährige Jungs eigentlich nicht mehr weinen.
    Manchmal bin ich aber total durcheinander, wenn mir einfällt, dass mittlerweile Phillipp mein kleiner Bruder geworden ist. Dabei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher