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Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Titel: Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
Autoren: Helmut Pöll
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ausgefressen habe. Meistens ist meine Mutter der Racheengel. Aber ihre Schwester, die heilige Gisela, hilft ihr gerne, wenn sie gerade da ist.
    Tante Gisela kommt oft an Sonntagen zu uns. Sie ist 45, hat aber schon ganz graue Haare. Das kommt daher, weil sie ihren Lebensgefährten tot vor dem Fernseher gefunden hat. Sie machen immer einen Eiertanz, wenn man sie nach dem Tod von Gerd fragt. Ich habe Gerd nur ein paar mal gesehen. Er war 50, hatte lange Haare mit Stirnglatze und war völlig verpeilt. Er gab nie richtige Erwachsenen-Antworten, egal was man ihn fragte. Er sagte nur immer:
    „Hm, weißt du, das kann man so oder so sehen“.
    Gerd hat nie gearbeitet. Er war das schwarze Schaf einer Industriellenfamilie. Die haben ihn ausbezahlt, damit er ihnen nicht Ostern und Weihnachten versaut und komische Sachen unter dem Christbaum sagt. Seitdem hing er bei Tante Gisela rum und kümmerte sich um den Haushalt oder topfte Blumen um, während sie in den Kindergarten zur Arbeit ging. Meine Mutter und ich haben die beiden einmal zufällig in der Stadt getroffen. Wir waren in der Nähe ihrer Wohnung und Gerd hat uns spontan zum Essen eingeladen. Das kannte ich von uns nicht. Zu uns wurde nie jemand spontan zum Essen eingeladen, weil zuerst tausend Jahre überlegt werden musste, wen man zusammen mit wem einladen konnte, damit es keinen Streit gab. Und vor allem zerbrach sich meine Mutter dann ewig den Kopf, was sie kochen sollte, damit es allen schmeckte. Meistens lud sie dann niemanden ein, dann gab es wenigstens keinen Ärger.
    Gerd sagte einfach: „Kommt mit, es gibt Ingwerhühnchen“.
    Das hat richtig Spaß gemacht. Ich durfte ihm beim Kochen helfen und die Soße so scharf machen, wie ich wollte. Ich mag scharfe Soßen, weil ich mir dann vorstellen kann, dass ich ganz weit weg in Urlaub bin, wo ich noch nie war. In irgendeinem Land, wo das Meer so warm ist wie das Wasser in der Badewanne und wo kleine Affen Kokosnüsse von den Bäumen holen, wenn man mag.
    Als alles schließlich ungenießbar war hat sich Gerd aber überhaupt nicht aufgeregt. Ich habe nämlich einen Moment nicht aufgepasst und bei der Dosierung des Chilipulvers Teelöffel mit Esslöffel verwechselt. Gerd hat nur ein wenig von meiner Soße probiert und gleich wieder ausgespuckt.
    „Scheiße, ist das scharf“, sagte er und warf das ganze todesscharfe nepalesische Ingwerhuhn einfach in den Müll. Dann holte er aus dem Gefrierschrank einen gefrorenen Block genießbares Ingwerhuhn und taute ihn in der Mikro auf.
    Ich bin völlig durchgedreht und habe vor Begeisterung kurz meinen Rainman-Schrei zum Besten gegeben. Dann fragte ich ihn, warum er nicht gleich das gefrorene Hühnchen genommen hat, anstatt selbst zu kochen.
    „Weil Auftauen weniger Spaß macht“, meinte er nur, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt.
    Am Tisch hat er dann meiner Mutter und Gisela erzählt, dass ich das Hühnchen gewürzt habe. Die beiden waren völlig begeistert und haben mich gelobt. Das war schön, auch wenn es geschwindelt war, weil ich ja eigentlich das Essen vergeigt hatte. Aber fairerweise muss man sagen, dass Gerd ja 400 Ingwerhuhn Vorsprung hat, oder noch mehr. Das kann man so sehen oder so. Und wenn ich erst einmal 400-mal Ingwerhuhn gekocht habe, dann schmeckt es sicher mindestens so gut wie der aufgetaute Block von Gerd. Insofern ist das Lob doch nicht so ungerechtfertigt. Das hat Gerd genauso gesehen, denn er hat mir zugezwinkert und ich musste grinsen und war 10 Minuten nicht zappelig.
    Das Schlimme aber war, dass es eigentlich zwei Gerds gab. Es gab den einen Gerd, bei dem ich mich wohl fühlte, der mit mir Ingwerhühnchen kochte und mein Freund war. Und es gab den anderen Gerd, der laut wurde und ausfallend und Gläser in die Ecke warf. Er kannte die Geschichte aller Weingüter und sprach fließend französisch. Und er las ganz viele französische Autoren, die scheinbar teilweise ziemlich berühmt sind, die ich mir aber alle nicht merken kann, weil ich ja sogar die Namen der englischen vergesse.
    Weil er so viele französische Bücher las, nannte ihn meine Tante Gisela „Mein Schöngeist“.
    Wenn wir kochten und Gerd aus der Küche ging, dann wurde ich immer ganz hibbelig, weil ich Angst hatte, dass nicht mein Freund zurückkommt, sondern der Gerd, der dann laut wurde. Trotzdem fehlt er mir, denn so viele Freunde hat ein Junge mit ADS nicht und mein großer Bruder ist ja auch nicht mehr da.
     
     

3
    Tante Gisela ist eine Schwindlerin. Ich habe
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