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Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Die Elefanten meines Bruders (German Edition)

Titel: Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
Autoren: Helmut Pöll
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war ich doch viel jünger als er. Aber dann habe ich ihn eines Tages überholt. Ich weiß noch, dass an meinem Geburtstag meine Tante sagte:
    „Jetzt bist du älter als Phillipp“, und dann die anderen zum Heulen in die Küche gingen, damit ich es an meinem Geburtstag nicht sehen muss. Aber ich habe es natürlich gemerkt, weil alle mit rotgeweinten Augen aus der Küche zurückgekommen sind und sich meine Mutter dann auch noch dauernd geschnäuzt hat.
    Mit dem Engel und dem blöden Autofahrer werde ich aber nicht klein beigeben, solange ich lebe. Das bin ich Phillipp schuldig. Vielleicht würde ich ja Amok laufen, wenn ich ein Engel wäre und mich jemand total aufregen würde oder ganz gemein zu mir wäre.
    Meine Tante Erika hat mich darauf gebracht. Sie sagte, dass jeder Amok laufen könnte. Auch die ganz Guten. Und besonders die, von denen man es überhaupt nie denken würde. Das sind nämlich die, die alles in sich hineinfressen.
    „Das musst du dir so vorstellen wie den Dampfkochtopf deiner Mutter, wenn das Ventil klemmt“, sagte sie.
    „Plötzlich fliegt einem alles um die Ohren.“
    Solche Sprüche von Tante Erika machen mich irre. Ich kann das einfach nicht vergessen. Das macht mir Angst. Ich stehe in der U-Bahn und schaue mich ängstlich nach diesen Kochtopf-Menschen um. Ist der einer? Oder die? Die grimmige alte Henne vielleicht am Blumenstand? Oder der schlaffe alte Opa, der ganz vornübergebeugt auf den Zug wartet? Vielleicht tut er auch nur so und wartet und kurz bevor der Zug anhält und die Türen aufgehen, zieht er seine Pistole und - Paffpaffpaff - streckt er fünf in seinem Umkreis nieder, bevor er sich mit der sechsten Kugel in den Kopf schießt.
    Da kann ich mich ziemlich hineinsteigern. Vor allem wenn die U-Bahn nicht kommt. Ich sage dann „Kommkommkommkommkommkomm KOMM“. Immer lauter, damit ich dem Mann mit dem Revolver entkomme. Manchmal merke ich nicht, dass ich das „Kommkomm“ nicht nur laut denke, sondern schon laut hinausschreie und ganz nervös auf der Stelle herumeiere. Der alte Revolvermann sieht dann zu mir herüber und man sieht ihm an, dass ihm mein Geschrei total auf den Keks geht und ich der erste wäre, den er erledigt, wenn er seinen Revolver zieht.
    Er fährt immer am Donnerstag, der alte Revolvermann und steigt in den vierten Wagen in den Zug der Linie 2, der die Stadt in nördlicher Richtung verlässt. Das finde ich seltsam. Deshalb beschatte ich ihn meistens, wenn ich nach der Schule ein wenig Zeit habe. Meine Schülerkarte ist nicht so weit gültig, aber das macht nichts, weil Schüler nicht kontrolliert werden und wenn sie in der falschen Linie sitzen, hält man sie für bekloppt und setzt sie einfach in die Linie der entgegengesetzten Richtung, in der Hoffnung, dass sie dann einfach nach Hause gehen.
    Der alte Mann wohnt in einer Mietskaserne im achten Stock. Er heißt entweder Serrano, ist also Spanier, oder Matisse, so wie der Maler, wo mich meine Tante mal in eine Ausstellung mitgeschleift hat, weil sie in irgendeinem blöden Preisausschreiben Freikarten gewonnen hat und sonst keiner mitgehen wollte.
    Nur diese beiden Parteien wohnen im achten Stock, wo er ausgestiegen ist. Das habe ich am Aufzuglicht gesehen. Er hätte natürlich auch ein Spion sein können und bis zum achten Stock hochfahren, während er eigentlich im sechsten wohnt, um sein Spuren zu verwischen. Aber das glaube ich nicht. Für einen Spion ist er zu alt.
    Ich nenne ihn für mich einfach Serrano, obwohl ich nicht weiß, ob das stimmt. Aber das ist egal, es ist für mich die beste Lösung. Weil wenn ich mir jetzt hunderttausendmal überlege „er heißt Serrano nein er heißt Matisse nein er heißt Serrano oder doch Matisse“, dann drehe ich irgendwann total durch und meine Medikamente wirken nicht mehr.
    Während ich Serrano beschatte, komme ich mir ganz wichtig vor. Ich werde nämlich die Polizei informieren, bevor Serrano mit seinem Trolly eine Bombe ins Schließfach des Hauptbahnhofs bringen kann, die er jetzt gerade in seiner Küche aus Kunstdünger und anderen harmlosen Zutaten baut. Vielleicht erschießt er ja gar niemanden in der U-Bahn, sondern sprengt alles in die Luft mit seinem Kunstdünger-Trolly.
    Ich habe Serrano eine Woche beschattet, während ich meiner Mutter erzählte, ich bekäme kostenlos Englisch Nachhilfe. Sie war ganz froh, weil ich nämlich ziemlich schlecht in Englisch bin. In den anderen Fächern bin ich auch keine Leuchte, aber so schlecht wie in Englisch bin ich
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