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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie
Autoren: Jay Bonansinga
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Schneeschicht, dann brach die Kante plötzlich an einer Seite in sich zusammen. Und Grove rutschte rückwärts nach unten. Auf die Wand zu. Rutschte und verlor jeden Halt. Schrie laut. Rutschte, rutschte –
    – krallte sich ins Eis –
    – bis er abstürzte.
    Im letzten Moment gruben sich Groves Finger mit den blutigen Nägeln wie Enterhaken in einen Spalt der Eiskruste. Sein Körper wurde hin und her geschleudert und prallte gegen die Wand der Gletscherspalte. Er hing mitten in der Luft. Sieh nicht hinunter, sieh bloß nicht hinunter, tu es nicht, nein!
    Er sah hinunter.
    Unter ihm stürzte die Gletscherspalte hinab in schwarze Unendlichkeit. Eine Million Jahre Gletschergezeiten. Ein bodenloser dunkler Schlund, der hungrig darauf wartete, ihn zu verschlingen.
    Der Wind peitschte seinen Rücken. Er versuchte sich wieder über den Rand hinaufzuziehen, aber seine Verletzungen machten es ihm unmöglich. Schmerzen peinigten seine Hüfte, seine Rippen, seinen Kopf. Sein Körper pendelte im Bergwind wie eine leblose Last.
    Niemand wird je wissen, wie lange er dort hing, allein in den eisigen Böen über dem schwarzen Abgrund. Es könnte eine einzige Minute gewesen sein. Es könnte auch viel länger gedauert haben. Grove würde es nie erfahren.
    Dort, im gnadenlosen Eissturm, blieb die Zeit stehen wie ein kaputtes Uhrwerk.
    Er wusste, dass er sterben würde, aber er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass er noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen hatte. Eine unerledigte Pflicht.
    Als er dort hing, nur gehalten von seinen tauben, fast erfrorenen Fingern, hörte Grove seine Mutter leise das gebetsähnliche Wiegenlied singen. Wieder und wieder durchdrang es seine gepeinigten Gedanken wie ein Fiebertraum und erklang im Rhythmus seiner verzweifelt keuchenden Atemzüge.
     
    «Ndeya no mwana wandi munshila ba mpapula,
    Munshila ba mpapula
    Iye, iye, iye yangu umwnaa wandi
    Yangu umwana wandi mushila ba mpapula»
     
    (Es ist nicht gut, allein zu sein auf dieser Welt
    Mutter, trage mich
    Eines Tages werde ich auch dich tragen
    So wie ein Krokodil seine Jungen auf dem Rücken
    trägt.)
     
    Tränen brannten in seinen Augen, und er wollte schon aufgeben, als er zwei Dinge fast gleichzeitig bemerkte, die ihn dazu brachten, sich noch einen grausamen Augenblick lang festzuklammern.
    Der Tag brach an.
    Die ersten gleißenden und ungetrübten Lichtstrahlen der Hochgebirgssonne durchbrachen die Düsternis und malten Streifen im grellen Rot von Blutorangen auf die Flanke des Berges. Die raue Felswand um Grove fing zu leuchten an. Eiskristalle zerstreuten das Licht in Silberfunken.
    Dann glitt in diesem ersten Morgenlicht ein Schatten mit Kapuze über die steinige Oberfläche der Ostwand. Die Gestalt war langgliedrig und erschien auf einem Felsvorsprung über Grove. Ein Pfeil ragte aus einem Bogen hervor, direkt auf Groves Nacken gerichtet.
    «Vielen Dank.»
    Im Sturm kaum zu hören, drangen die unerwarteten Wörter an Groves Ohren wie mitfühlende Töne, gezupft auf den Saiten einer Harfe. Diese Eröffnung ließ ihn erzittern. Zwei einfache Wörter, keuchend hervorgestoßen in einem nasalen und animalischen Bariton, die sich in Groves Kopf verflochten und nun allem, allem einen Sinn gaben.
    Der Schock über diese Erkenntnis hätte Grove beinahe aus der Felswand abstürzen lassen, aber er konnte sich noch für einen letzten Sekundenbruchteil festhalten, lange genug, um den Kopf zu drehen und hinaufzublicken in das vollkommen verwüstete Antlitz, das sich ihm über die Klippe hinweg entgegenreckte.
    Im klaren Sonnenlicht sah Ackerman aus, als sei er schon tot – entstellt von einem Schlaganfall oder Herzstillstand. Das Gesicht hatte die Farbe gefrorener schwarzer Schlacke. «Vielen Dank», sagte das Monster, als es den Pfeil nach hinten zog und den Bogen spannte.
    In diesem endlosen Augenblick, bevor der Pfeil seine Halterung verließ, gelang es Grove, eine gelähmte Hand in den Felsspalt zu halten, während er die andere zum Himmel erhob.

Kapitel 29
Die Öffnung
     
     
     
    Die Pose. Der erhobene Arm. Sie hatten alle dasselbe gemacht.
    Der Eismann. Der römische Ermittler. Der einsame Schamane im Sumpf. All die Medizinmänner und prähistorischen Ermittler, die über die Jahre ausgegraben worden waren. Im Augenblick ihres Todes hatten sie alle verschiedene Formen desselben Rituals ausgeführt, um die Erde vom Teufel zu befreien.
    Von noch größerer Bedeutung aber waren die Worte, die wie verglühende Aschefunken in Groves Hirn
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