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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie
Autoren: Jay Bonansinga
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zu befinden, doch sie waren vom Wind so verweht, dass man sie kaum sehen konnte.
    Da kein Pfad zu erkennen war, halfen einzig und allein die kleinen roten Fähnchen, die aus dem zehn Zentimeter hohen Schneeteppich ragten, bei der Orientierung.
    Seine schnaufenden Atemzüge klangen Grove wie Donner in den Ohren. Er hatte Seitenstiche, und in der Brust spürte er pochende Schmerzen. Die Höhe machte ihm bereits zu schaffen. Ihm war schwindlig, und das Atmen fiel ihm zusehends schwerer. Denk an die misshandelte und blutende Maura, denk an die unschuldigen Opfer, denk an Zorn, nutze deine Wut.
    Er rechnete jeden Moment damit, dass ein Pfeil in der Dunkelheit durch die Luft flog. Er griff in seinen Anorak und ertastete die Beavertail-Griffsicherung des .357ers. Ohne aus dem Schritt zu geraten, löste er die Waffe, zog sie hervor und ließ sie am langen Arm neben sich baumeln, während er sich vorankämpfte.
    Ohne ganz zu verstehen, warum, musste er an Father Carrigan und dessen hitzige Ausführungen vor ein paar Tagen im Hotel Nikko denken. Was hatte der alte Kauz über die Körperhaltung gesagt, in der all diejenigen gestorben waren, die man als Mumien aufgefunden hatte?
    Es ist eine Geste der Absorption… eine Anrufung… die Aufnahme eines Geistes in den eigenen irdischen Körper.
    Grove hatte das Gefühl, genau diese beschwörende Anrufung zu vollziehen. Allein auf diesem gottverlassenen Berg. Beim Versuch, einen Wahnsinnigen hervorzulocken, den Dreckskerl anzurufen, ihn aus seinem Versteck zu locken. Er folgte in der Dunkelheit zwei parallelen Routen – einer modernen, einer alten –, deren Verläufe sich einander anglichen wie zwei Fadenkreuze, wie zwei identische DNA-Stränge.
    In der Dunkelheit vor ihm tauchte eine weitere rote Miniaturfahne aus dem Schnee auf.
    Grove ging zu ihr und blieb stehen. Der Schnee war hier tiefer. Er reichte jetzt bis hinauf zu seinen Schienbeinen und machte jeden Schritt zur kräftezehrenden Herausforderung. In den Füßen hatte Grove jedes Gefühl verloren. Die Bäume hatten sich gelichtet. Die Luft war dünner geworden. Sein Atem formte Wolken. Grove sah auf und erblickte das Sternenchaos über sich, gleichgültig funkelnd wie die Lichtpunkte unter der Kuppel eines Planetariums.
    Es kam ihm vor, als würde er gleich die Erdatmosphäre verlassen und in die Tiefen des Raums eintauchen. Er versuchte, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren. Seine Wunden brannten immer heftiger. Er zog die beiden Karten hervor und studierte sie im überirdisch silbrigen Licht.
    Seine Hände zitterten, als er versuchte, sich auf die konzentrisch verlaufenden Vergleichslinien aus blauer und schwarzer Tinte auf dem normalen Papier und dem Pauspapier zu konzentrieren. Beim Vergleich der beiden Routen – derjenigen von Ackerman und derjenigen, welche die Archäologen als die des Eismannes rekonstruiert hatten – kam Grove zu dem Schluss, dass er sich dem Punkt näherte, wo die beiden Wege aufeinander stießen. Die Begräbnisstätte des Eismannes. Unter der Hose kribbelte Groves Haut an den Stellen, wo die Filzstifttätowierung getrocknet war: Beschütze uns… dieweil wir sie beschützen.
    Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken.
    Die Karte flatterte in den Schnee, den Revolver riss er instinktiv nach oben. Grove hielt ihn jetzt in beiden Händen, und seine weit geöffneten Augen schimmerten in der Finsternis. In zehn Meter Entfernung hatte sich etwas bewegt. Grove zielte darauf.
    Etwas wie ein Balg, wie Fell oder Gefieder, blitzte auf, und Grove schoss dreimal kurz hintereinander, Mündungsfeuer flammte in der Dunkelheit auf – PÄNG! – PÄNG! – PÄNG! Der Revolver tanzte bockig in Groves kaputten Händen, die Kugeln fetzten durch das spärliche Blattwerk mit einem Geräusch, als würde kräftiges Papier zerrissen.
    Dann Ruhe.
    In Groves Ohren klang das Echo der Stille. Vor seinen Augen tanzten die Sterne am Himmel, während er mühselig durch den hohen Schnee zur Lichtung stapfte, die vor ihm lag. Den Revolver, der glühendheiß in seinen eiskalten Händen lag, hielt er noch immer erhoben. Im Mündungsfeuer hatte er nur ganz kurz gesehen, dass etwas über den Boden gerollt war.
    Im Schatten links von Grove zuckte etwas. Er sah hinunter auf die schorfig weiße Schneeoberfläche und bemerkte das Tier. Es dauerte eine ganze Weile, bis er es bewusst registriert hatte. Er starrte und starrte es an. Sein keuchender Atem ließ weiße Dunstwolken in den dunklen Himmel steigen. Mit dem leeren Blick eines
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