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Amsterdam

Amsterdam

Titel: Amsterdam
Autoren: Ian McEwan
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[9]  1
    Zwei ehemalige Liebhaber von Molly Lane standen wartend mit dem Rücken zur Februarkälte vor der Kapelle des Krematoriums. Es war zwar schon alles gesagt worden, aber sie sagten es noch einmal.
    »Sie wußte gar nicht, wie ihr geschah.«
    »Als sie’s gemerkt hat, war’s schon zu spät.«
    »Dann ging alles blitzschnell.«
    »Arme Molly.«
    »Mmm.«
    Arme Molly. Es hatte mit einem Kribbeln in ihrem Arm begonnen, als sie vor dem Dorchester Grill ein Taxi herbeigewinkt hatte; eine Empfindung, die sie nicht mehr verließ. Schon nach wenigen Wochen mußte sie in ihrem Gedächtnis nach den Namen der Dinge kramen. Auf Parlament, Chemie, Propeller konnte sie noch verzichten, auf Bett, Sahne, Spiegel dagegen schon weniger. Nachdem sich zeitweise auch Akanthus und bresaola verflüchtigt hatten, holte sie ärztlichen Rat ein, rechnete sie doch mit beruhigenden Versicherungen. Statt dessen wurde sie zu Untersuchungen fortgeschickt und kehrte in gewissem Sinne nie mehr zurück. Wie rasch die lebhafte Molly zur bettlägerigen Gefangenen ihres grämlichen, krankhaft eifersüchtigen Ehegatten George geworden war! Molly, ein hinreißender, geistreicher Mensch, Restaurantkritikerin und Fotografin, [10]  wagemutige Gärtnerin, die den Außenminister zum Geliebten gehabt hatte und noch im Alter von sechsundvierzig Jahren ein tadelloses Rad schlagen konnte! Die Geschwindigkeit, mit der sie in den Tiefen der Umnachtung und des Schmerzes versank, wurde Gegenstand allgemeinen Geredes: Ihr sei die Kontrolle über ihre Körperfunktionen entglitten und zugleich ihr Sinn für Humor, sie verliere sich im Ungefähren, dazwischen Ausbrüche blinder Gewalt und unartikulierte Schreie.
    Der Anblick von George, der eben aus der Kapelle trat, veranlaßte Mollys Liebhaber, den mit Unkraut überwucherten Kiespfad hinaufzugehen. Sie verirrten sich in eine Anlage ovaler Rosenbeete, die durch ein Schild als »Garten der Besinnung« ausgewiesen war. Jede Pflanze war brutal bis auf wenige Zentimeter über dem gefrorenen Boden zurückgeschnitten worden, ein Vorgehen, das Molly stets beklagt hatte. Das Rasenstück war mit festgetretenen Zigarettenstummeln übersät, denn dies war ein Ort, an dem die Leute herumstanden und darauf warteten, daß die vorhergehende Trauergemeinde das Gebäude räumte. Während sie auf und ab schlenderten, nahmen die beiden alten Freunde das Gespräch wieder auf, das sie, in verschiedenen Formen, schon ein halbes dutzendmal geführt hatten, das ihnen indes mehr Trost verschaffte als das Absingen des Kirchenliedes Pilger.
    Clive Linley hatte Molly zuerst kennengelernt, damals, 1968, als sie Studenten waren und im Vale of Health in einem chaotischen Haushalt mit wechselnden Bewohnern zusammenlebten.
    »Ein furchtbares Ende.«
    [11]  Clive sah, wie sein dunstiger Atem in die graue Luft entschwebte. Es hieß, daß die Temperatur im Londoner Stadtzentrum heute minus elf Grad betrug. Minus elf. Mit der Welt ging es ernstlich bergab, wofür weder Gott noch seine Abwesenheit verantwortlich gemacht werden konnte. Des Menschen erster Ungehorsam, der Sündenfall, eine abfallende Tonfolge, eine Oboe, neun Töne, zehn Töne. Clive hatte ein absolutes Gehör und hörte sie vom G absteigen. Es war nicht nötig, sie zu notieren.
    Er fuhr fort: »Ich meine, so zu sterben, ohne Bewußtsein, wie ein Tier. So geschwächt, so gedemütigt, bevor sie noch Vorkehrungen treffen oder auch nur Lebewohl sagen konnte. Unbemerkt kam’s über sie, und dann…«
    Er hob die Schultern. Sie gelangten ans Ende des zertrampelten Rasens, machten kehrt und gingen zurück.
    »Sie hätte sich lieber umgebracht, statt so zu enden«, sagte Vernon Halliday. 1974 hatte er ein Jahr lang mit ihr in Paris gelebt, als er seine erste Anstellung bei Reuters bekam und Molly irgend etwas mit Vogue zu tun hatte.
    »Hirntot und in den Klauen von George«, sagte Clive.
    George, der schwermütige, wohlhabende Verleger, der sie abgöttisch liebte und den sie, obwohl sie ihn stets schlecht behandelte, zu jedermanns Überraschung nicht verlassen hatte. Sie sahen zu ihm hin, wie er vor dem Portal stand und die Beileidsbezeigungen einer Gruppe von Trauergästen entgegennahm. Mollys Tod hatte ihn der allgemeinen Verachtung enthoben. Er schien ein, zwei Zoll gewachsen zu sein, sein Rücken war gerader, seine Stimme tiefer geworden, eine neue Würde hatte seine flehenden, gierigen Augen verengt. Er hatte sich geweigert, sie in ein [12]  Heim einweisen zu lassen, und sie
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