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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie
Autoren: Jay Bonansinga
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Kapitel 1
Die Uhr läuft ab
     
     
     
    In dieser sturmdurchtosten Nacht, als sich der siebente Mord in den zerrissenen Schatten eines Naturschutzgebiets fünfzehnhundert Meilen weiter westlich in Colorado ereignete, lag Ulysses Grove ahnungslos in einem unruhigen Halbschlaf.
    Grove war Profiler beim FBI. Er litt schon seit Monaten an Schlaflosigkeit. Jede Nacht rollte er die Einzelheiten der ungeklärten Verbrechen in Gedanken von neuem auf. Es war eine Serie von sechs Mordfällen, die als «Sun-City-Morde» bekannt geworden waren (nach der Stadt Huntley, Illinois, in der der erste Mord begangen wurde). Jede Nacht ging er die nutzlosen Spuren und Indizien durch. Wie gefräßige Parasiten bohrten sich die Fragen durch seine Gehirnwindungen und nagten an seinem Selbstvertrauen. Zuweilen mündeten diese fieberhaften Quälereien tatsächlich in grippeartigen Symptomen, und Grove musste Tabletten schlucken, um überhaupt einschlafen zu können.
    Aber in dieser Nacht, in der Grove sich zwischen seinen verknitterten, feuchten Laken wälzte und versuchte, noch ein Zipfelchen Schlaf zu ergattern, wusste er nichts von dem, was sich auf der anderen Seite des Landes in einer entfernten Ecke der Rocky Mountains zutrug.
     
     
    Im Schutz der Dunkelheit huschte eine hagere Gestalt leise zwischen den Bäumen hindurch. Mit seinem dunklen Tarnanzug war der Mann bei diesem stürmischen Wetter nicht zu erkennen. Er holte aus einer Schultertasche einen in seine Einzelteile zerlegten Präzisionsbogen hervor. Mit ruhiger Hand steckte er die Waffe zusammen. Durch die Nadeln und Blätter der Bäume fiel dünner Nieselregen, und die Tropfen verwischten die schwarze Tarnfarbe, die der Mann auf dem Gesicht trug. Er legte den Bogen an und zog die Sehne durch.
    Der Pfeil zischte lautlos durch die Nacht.
    Wenige Meter weiter rollte der Fahrer der städtischen Müllabfuhr gedankenverloren eine Mülltonne zu seinem Wagen hinüber. Er schob einen massigen Bauch vor sich her, der seinen abgetragenen Parka buchstäblich aus allen Nähten platzen ließ. Der Pfeil traf ihn zwischen den beiden Nackenmuskeln und hätte den Mann beinahe aus seinen klobigen Arbeitsschuhen gehoben. Er war tot, noch ehe sein schwerer Körper auf dem bemoosten Waldboden landete. Das Blut schoss pulsierend aus seiner Halsschlagader und färbte das Unterholz rot. Die Mülltonne, die er gehalten hatte, kippte um und rollte den schmalen Weg hinunter – über eine Strecke von genau zwölf Metern, wie die Kriminaltechniker drei Stunden später feststellen sollten. Das ohrenbetäubende Getöse verschluckte die Schritte des Mörders, der nun aus dem Unterholz hervorkam und auf den leblosen Körper zuging. Es waren feste und selbstbewusste Schritte, als verfolge er ein klares Ziel. Dabei hatte er das Opfer völlig willkürlich ausgewählt. Dafür lagen Vorsatz und Absicht darin, was er mit der Leiche machte. Was der Mörder mit dem Körper anrichtete, sollte nicht nur der Schlüssel zur Lösung der Fälle werden, es würde auch das Schicksal des Mannes bestimmen, der den Verbrecher stellte.
     
     
    In der Dunkelheit seines Schlafzimmers schreckte Grove hoch, als sein Handy klingelte.
    Ein wiederkehrender Traum von Massengräbern und verlassenen Katakomben lastete noch auf ihm, benommen drehte er sich zur Seite und tastete nach dem Telefon, das im Ladegerät steckte. Als Berater der FBI-Eliteabteilung Behavioral Science hatte Ulysses Grove zwar offiziell keinen Bereitschaftsdienst, doch de facto war es so, besonders seit diesen ungelösten Sun-City-Fällen.
    «Grove», grummelte er in das Handy und setzte sich auf die Bettkante. Er war ein hoch gewachsener, schlanker Afroamerikaner mit kantigen Gesichtszügen und der Gestalt eines Dauerläufers. Er trug nur Boxershorts, und die Kälte des frühen Morgens jagte ihm eine Gänsehaut über die bloßen Beine.
    «Er hat wieder zugeschlagen», sagte eine tonlose, wie unbeteiligt klingende Stimme am anderen Ende der Leitung. Grove erkannte den Anrufer sofort, und er benötigte keine weitere Erklärung, worum es ging.
    «Sun City?»
    «Ja, in Colorado», bestätigte Thomas Geisel, Chef der Behavioral-Science-Abteilung. Er sprach in dem niedergeschlagenen Tonfall eines Generals, der soeben dem Feind kampflos das Schlachtfeld überlassen hatte.
    «Colorado», echote Grove und massierte sich den Nacken, um den Schlaf vollends zu vertreiben. «Den Tatorten nach zu urteilen bewegt er sich also in nordwestliche Richtung.»
    «Die Hauptsache ist,
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