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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie
Autoren: Jay Bonansinga
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weidwunden Tieres starrte das Ding aus kleinen Knopfaugen zurück.
    Der Vogel, der in Todeszuckungen lag und an seinem Blut erstickte, hatte die Ausmaße eines großen Cowboyhutes. Sein Gefieder war grau gesprenkelt, aber von einem der Schüsse aufgerissen und versengt. Grove erkannte die Vogelart, weil er sich an ein Foto in dem Führer erinnerte, den er im Flugzeug studiert hatte. Ein Moorschneehuhn. In diesem Park wimmelte es nur so von ihnen. Grove fühlte sich, als würde sein Brustkorb im nächsten Augenblick bersten. Er streifte die Handschuhe ab, um den Abzug besser spüren zu können.
    Er richtete den Revolver auf den Schädel des armen Tiers, als er ein anderes Geräusch hörte.
    Es kam von den weiten Eisfeldern über ihm, jenseits der Baumgrenze – von der weißen Tundra, wo die sauerstoffarme Atmosphäre alle Bäume sterben lässt und das Gestrüpp zu bizarren Gespensterwesen verformt, die aus dem Schnee wachsen. Es kam wie ein Flüstern, vom Wind getragen, und ging Grove durch und durch, bis in die Genitalien. Die Härchen auf seiner Haut richteten sich starr auf wie Metallspäne in einem Magnetfeld.
    Jemand hatte mit einer Stimme, die nicht von dieser Welt war, seinen Namen gerufen. Eine tonlose Stimme ohne alles Menschliche – nicht unähnlich dem zischenden Ton beim Anreißen eines Streichholzes.
    – ULLLYSSSEEEEEEES –
    Grove schluckte sein Entsetzen hinunter und stieg durch den tiefen Schnee den immer steiler werdenden Hang hinauf. Mondschein schimmerte zwischen spärlichen Ästen hindurch. Seine Stiefel sanken bei jedem Schritt ein und machten knirschende Geräusche, als würde eine Asphaltdecke aufreißen. Er sah die Baumgrenze vor sich, die Schwelle, über die man aus der letzten Baumreihe in eine zeitlose und todbringende Schneewüste trat.
    Die Park-Ranger nennen es das Schlüsselloch – eine Lichtung mit verkrüppelten Schösslingen und verkümmerten Sitkafichten. Durch das Schlüsselloch gelangen Bergwanderer und Bergsteiger in höhere, alpine Bereiche, wo die Basislager errichtet werden, von denen aus man Klettertouren unternimmt. Parkbesucher schwärmen von der landschaftlichen Schönheit.
    Als Grove die Lichtung erreichte und den ersten Blick auf das riesige, vom Mond beschienene Eisfeld warf, verschlug es ihm beinahe den Atem. Wie einer dieser riesigen Hollywood-Scheinwerfer warf der Mond sein Licht auf den Gletscher und leuchtete einen unerforschten Planeten mit tiefen weißen Kratern und Schneedünen aus. Der schwarze Granitturm des Mount-Cairn-Gipfels ragte im Norden auf.
    Ein feiner Strang aus Stiefelabdrücken zog sich wie eine Naht über den Schnee bis in die Ferne.
    Grove stieß einen Laut des Erschreckens aus und nahm den Revolver hoch.
    In einer Entfernung von ungefähr dreihundert Metern, dort wo die Fußabdrücke aufhörten – an genau derselben Stelle, an der ein Jahr zuvor die Mumie entdeckt worden war – stand Ackerman, fast bis zu den Knien im Schnee. Sein Gesicht war verborgen von der dunklen Nylonkapuze. Man sah nur seine Silhouette: Grove den Blick zugewandt, seinen Jagdbogen an der Seite, einen Pfeil umklammert.
    Auf diese Entfernung waren unter der Kapuze nur gelbe Zähne zu erkennen.

Kapitel 28
Schwarze Unendlichkeit
     
     
     
    Komm schon, komm schon, du Idiot, erschieß ihn! Um Himmels willen, so drück doch ab, du hast zwei Schüsse, also zwei Chancen, und die Waffe ist ausgelegt für vierhundert Meter oder mehr. Also komm, KOMM –!!
    Grove zielte.
    – KOMM SCHON KOMM SCHON KOMM SCHON –!!
    Er schoss.
    SCHEISSE!
    Der Feuerstoß blitzte silbrig vor Groves Augen, das Dröhnen der Detonation ließ die dünne Nachtluft vibrieren. In der Ferne zuckte Ackerman zusammen, erschreckt vom Lärm. Dann drehte er sich um, und mit hektischen Bewegungen seiner schlaksigen Arme hinkte er östlich in Richtung einer gigantischen Felsformation davon.
    Habe ihn verfehlt! Verdammt, ich habe ihn verfehlt!
    Grove stürzte vorwärts über die Lichtung, den Revolver noch immer in den gefühllosen und fast erfrorenen bloßen Händen. Seine Lungen pumpten verzweifelt, und in seinem Kopf tönte es schrill – lass ihn nicht entkommen, bloß jetzt nicht mehr, du bist so nahe dran – SO NAHE – !! Er ließ die Silhouette, die in die Ferne floh, nicht aus den Augen. Der Wind heulte durch die Schlucht. Irgendwo südlich schrie ein Falke.
    Als er über das Eisfeld stürmte, kam es Grove vor, als sei die Weite, die sich vor ihm öffnete, Teil eines fremden und unbewohnten
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